1400 Kilometer Eiserner Vorhang: Ein DDR-Grenzer auf der Wanderung seines Lebens

Es gibt Menschen, die halten niemals die Füße still oder den Mund geschlossen – weil sie etwas verbessern wollen in ihrer unmittelbaren Umgebung, für das Gemeinwesen, ja, auch für die Menschheit. Andere schrecken vor den damit einhergehenden Konflikten zurück. Zu ersteren gehört Günter Polauke, Jahrgang 1948, Prenzlauer-Berg-Nachkriegskind aus antifaschistischer Familie, der den Vornamen seines im Alter von 21 Jahren in der Normandie gefallenen Onkels bekam: ein unverbesserlicher Optimist mit stabilem Gemüt und jener Art positiver Energie, die leicht auf andere überspringt.
Seit 11. Juni 2025 trägt er seine 76 Lebensjahre, davon etwa die Hälfte DDR-Zeit, gewissermaßen als zweiten Rucksack das Grüne Band entlang. Diesen freundlichen Namen trägt seit 9. Dezember 1989 die einstige Ost-West-Grenze. 1200 seltene oder gefährdete Tier- und Pflanzenarten leben dort, wo einst kahle Fläche, robuste Metallzäune und Minenfelder einen Todesstreifen bildeten. Heute erstreckt sich ein einzigartiger Natur- und Geschichtsraum, mal 30, mal 200 Meter breit, über exakt 1393 Kilometer. Am Rande liegen Städtchen und Dörfer, deren Einwohner tausendfach unerzählte Lebensgeschichten in sich tragen.
Als 18-Jähriger mit MP am TodesstreifenDiesen Weg will Günter Polauke laufen – durch Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, bis zum Ende, 80 Prozent davon Kolonnenweg, also mit Betonlochsteinplatten belegte Strecke, auf der einst DDR-Grenzposten patrouillierten. Polauke gehörte zu ihnen. Von 1967 bis 1970 leistete er Wehrdienst im Grenzabschnitt bei Salzwedel, wurde Feldwebel, auch Ausbilder. Er weiß, worum es geht, wenn von Schüssen auf DDR-Flüchtlinge die Rede ist. Mindestens 260 Tote hat es in den Jahren des Eisernen Vorhangs gegeben. „Ich stand da als 18-Jähriger mit der MP und 60 Schuss Munition“, sagt er heute, „glücklicherweise ist niemand gekommen. Was ich getan hätte, wenn es passiert wäre? Ich weiß es nicht.“

Es treibt ihn um, dass jetzt so viele Menschen über Krieg reden. Eine Waffe zu tragen, bedeute Verantwortung: „Politiker vergessen, in welche Situation sie Soldaten versetzen. Sie entscheiden fernab, die Soldaten verbluten im Graben.“ Deshalb sagt Polauke: „Nun soll wieder kriegstüchtig gemacht werden? Das kann nicht sein.“
Aber was kann man tun? „Worte allein helfen ja nicht.“ Seine Antwort: „Fang bei dir selber an.“ So kam es, dass er sich nach monatelanger Vorbereitung auf den Weg machte, um als Pilger am Grünen Band sein Leben noch einmal abzugehen. Als Katharsis, oder dialektisch mit Hegels Begriff der „Aufhebung“ gesagt: Überwinden eines Widerspruchs, wobei die positiven, wertvollen Elemente erhalten bleiben und fortgeführt werden und die negativen entfallen. In Günter Polaukes Worten klingt das so: „Das Leben rückwärts zu verfolgen, heißt zu gucken, was man hatte. Ich will mit mir selber ins Reine kommen und mit Leuten am Weg ins Gespräch treten.“

In seinem Fall fällt die Auseinandersetzung intensiver aus, als es allein seine Jahre als Grenzschützer erklären können. Von Beruf Ökonom mit Diplom der Handelshochschule Leipzig, SED-Mitglied, war Polauke 1986 bis 1989 Bürgermeister des Ost-Berliner Bezirks Treptow. Das hieß auch: 17 Kilometer Grenze zu West-Berlin, ein Stück Kreuzberg, ein Stück Neukölln. „Da war ich als politisch Verantwortlicher an der Grenze“, sagt er. Infrage gestellt habe er sie nicht; es sei eine „politische Gegebenheit“ gewesen.
Als Bürgermeister nahm er regelmäßig an Fahrten in die Grenzzonen teil. Er wusste, was da los war, kannte die Festlegungen, wie bei Grenzdurchbrüchen zu handeln war. Oberstes Gebot: „Schusswaffe nicht anwenden. Flucht im Vorfeld verhindern.“ Trotzdem starb ausgerechnet in seinem Bezirk Chris Gueffroy: der letzte Berliner Mauertote, ein 21-Jähriger, der nach einem Kneipenbesuch in einer Kleingartenanlage beschloss, den Grenzdurchbruch zu wagen. Er kam am Abend des 5. Februar 1989 durch Kugeln von DDR-Grenzsoldaten ums Leben. „Jeder Todesfall war schrecklich und traurig“, sagt Polauke.
Nach der Wende trat er bald als Bürgermeister zurück; er war von Amts wegen in die gefälschten Kommunalwahlen von 1989 verwickelt: „Ich konnte nicht mehr vor die Volksvertreter treten“, sagt er. Im Februar 1990 fing er ganz unten wieder an: in einer Kaufhalle in Köpenick. Weil er aber nun mal ist, wie er ist, stand er bald wieder in Verantwortung im Ehrenamt, als gewählter Vorsitzender des Sportvereins TSC – und führte 1998 bis 2011 den traditionsreichen Verein aus der Nachwendekrise. Seit 2001 ist Polauke SPD-Mitglied. Mit seiner Biografie ging er immer offen um.
Wegen der Weltpolitik als Einzelner in die Lage zu kommen, einen Menschen zu töten, das lässt menschliche Gemüter nicht so leicht los. Schon gar nicht einen wie Polauke, den ja Empathie den Menschen zutreibt. Um damit fertig zu werden, die kleine eigene wie die große Geschichte zu bewältigen, begibt er sich zweieinhalb Monate auf Wanderschaft.
Der größte Teil wird Einsamkeit sein, viele Stunden zum Nachdenken, Rekapitulieren. Inneren Frieden schließen mit Menschen, mit denen man haderte und stritt, aber auch klar Haltung beziehen, zum Beispiel zum jüngsten Krieg in Europa: „Ich bin solidarisch mit den von Russland überfallenen Ukrainern. Aber der Krieg in der Ukraine ist nicht mein Konflikt. Dort wird nicht meine Freiheit verteidigt.“ Er zweifelt: „Haben wir alle Mittel zum Friedenschaffen ausgeschöpft?“
Deshalb sucht er am Wegesrand das Gespräch; man müsse doch im Austausch bleiben, vor allem mit der Jugend – auch wenn die Meinungen ganz verschieden seien. Er spürt seit längerem: „Die Leute haben wieder Angst.“

An den ersten Wandertagen ergeben sich die Gespräche wie von selbst. Ein älterer Herr besucht zusammen mit seiner Frau und einer Freundin noch einmal die Orte, wo er selbst als Grenzer in den 1970er-Jahren Dienst tat. Ein anderer steht am Gartenzaun seines Hauses, und bald stellt sich heraus: Auch er war einst Grenzsoldat. Eine Frau erzählt von 40 Jahren Leben im Sperrgebiet, nicht mal der Bruder aus Jena habe sie besuchen dürfen. Jetzt allerdings, bei offener Grenze, habe ihr Ort keinen Bäcker mehr, keinen Arzt, keinen Bürgermeister.
Eine alte Dame sucht an der Saalebrücke bei Hirschberg gezielt Kontakt mit Durchwandernden. Sie hat einen Zettel mit einem Gedicht von Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) dabei; das soll man laut vorlesen: „Ihr wilden Gänse habt es gut, / Ihr ziehet frei und wohlgemut / Von einem Strand zum andern Strand / Durchs ganze liebe deutsche Land.“ Und weiter: „Uns zahmen Menschen geht′s nicht so: / Wir reisten gern auch frei und froh / Ununtersucht und unbekannt / Durchs ganze liebe deutsche Land.“ So war es 1840, und ist es nicht wieder so? Das Trauma der Teilung lebt. Und wird neu belebt.
Hier kann man den Tatsachen nicht ausweichen: Die Leute in den Grenzgebieten traf die Nachkriegsordnung mit aller Härte. Ganze Orte wurden umgesiedelt. Wer blieb, sah „die andere Seite“ nur Meter entfernt. Doch Blickkontakt war untersagt. Das Regime wurde von Jahr zu Jahr strenger. Ein älterer Mann erzählt, was es bedeutete, dass der Gartenzaun zugleich der Grenzzaun war. Flog der Ball der Kinder beim Spiel über den Zaun, also die Grenze, baten sie in den ersten Jahren noch die Posten auf der anderen Seite, den Ball in die Saale zu werfen, sodass sie ihn an der nächsten Brücke einsammeln konnten. Bald war das undenkbar geworden.
Zwei Tage lang begleiteten zwei Freunde Polaukes Gang, zweimal etwa 20 Kilometer Kolonnenweg durch die ersten heißen Tage des Jahres: Holger Friedrich, der Verleger der Berliner Zeitung, war dabei, weil „diese glaubwürdige Art der biografischen Aufarbeitung unterstützt gehört“.
Der zweite war Heskel Nathaniel, ein aus Israel stammender Immobilienentwickler, der vor 20 Jahren, als er längst Berliner war, selbst eine große Aktion organisierte, um ein Zeichen zu setzen. Damals erschütterten Terroranschläge Israel. Bei einem Joint mit einem Freund sei die Idee entstanden: „Wir müssen all den schlechten Nachrichten eine gute entgegensetzen.“ Es sollte einen „Berg der israelisch-palästinensischen Freundschaft“ geben.
Namenlose Berge, deren Erstbesteiger das Recht zur Namensvergabe haben, standen nur noch in der Antarktis. Die Aktion war dann eine Weltnachricht: 2004 segelten vier Palästinenser und vier Israelis, je drei Männer und eine Frau, 1000 Kilometer von Südchile in die Antarktis, wanderten zehn Tage durchs Eis und gaben einem 997 Meter hohen Berg den hoffnungsvollen Namen. Geholfen habe es nicht viel, sagt Heskel Nathaniel, aber was wäre, wenn alles wegen anscheinender Aussichtslosigkeit unterbliebe?
Die Grenzanlagen: Heute in BUND-HandEr erzählt die Geschichte in Nordhalben, Bayern, knapp südlich des einstigen Eisernen Vorhangs, in einem kleinen Café bei einem Schwedenbecher kurz vor dem Abschied von Günter Polauke, der nun gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit der Kriegslogik anwandert: durch in 35 Jahren gewachsene Gehölze, die auf dem einst kahl gehaltenen Grenzstreifen wuchern. Über weite Strecken verläuft parallel zum Kolonnenweg der sogenannte Kfz-Graben, der den Grenzdurchbruch mit Fahrzeugen stoppen sollte. Immer wieder stößt der Wanderer auf Reste des Originalmetallzaunes. Eine mächtige Infrastruktur, um 1400 Kilometer über Berg und Tal dicht zu machen.
Heute spürt der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), was es heißt, das Biotop zu bewahren. Noch gibt es keine durchgehende Kennzeichnung des Wanderweges, obwohl die Zahl der Menschen stetig steigt, die zumindest Teilstrecken gehen.

In Mödlareuth, wo die kleine Gruppe um Polauke startete, sind die Grenzanlagen in krasser Form erhalten. Schon immer trennte der Tannbach das jahrhundertealte, heute 55 Einwohner zählende Dorf. Seit 1810 verlief entlang des Bachs quer durch Mödlareuth die Grenze zwischen dem Königreich Bayern und dem Fürstentum Reussen-Lobenstein. Das störte nie, die Nachbarn feierten gemeinsam, gingen in eine Schule – bis die Spaltung Europas auch Deutschland trennte. Und ihr Dorf zerriss.
1952 entstand eine übermannsgroße Bretterwand quer durchs Dorf, 1966 eine 700 Meter lange Betonsperrmauer mit Wachtürmen und all den Grenzanlagen, wie sie auch West-Berlin umschlossen. Amerikanische Militärs nannten Mödlareuth „Little Berlin“. Am 9. Dezember 1989 öffnete ein Bagger einen direkten Übergang. Die wichtigsten Grenzanlagen sind erhalten und heute Teil des Deutsch-Deutschen Museums Mödlareuth.
Günter Polauke hat sich gefreut, dass man ihm dort freundlich begegnete, obwohl er von der „Täterseite“ kommt und unumwunden einräumt: „Ich bin kein Opfer.“ Doch er ist froh, dass die Grenze Vergangenheit ist: „Gut, dass wir heute darüber reden können.“
Berliner-zeitung