Als Merz scheiterte, sah Söder das Dritte Reich aufziehen: Dabei war das Demokratie in Bestform – Kommentar

Schnell war von Verrat die Rede, von einer Gefahr für die Demokratie. Die Stabilität des Staates sei bedroht. Als Friedrich Merz im ersten Wahlgang nicht vom Bundestag zum Kanzler gewählt worden war, schlug die Stunde der Crash-Propheten. Eine der abgedrehtesten Bemerkungen kam von CSU-Chef Markus Söder, der sagte: „Die Gefahr des Scheiterns dieses stabilen demokratischen Prozesses kann am Ende ein Vorbote von Weimar sein, denn die Folgen sind unabsehbar.“
Zumindest der Schock war nicht unverständlich, schließlich war ein solcher Fall in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie vorgekommen. Merz’ Wahlklatsche bleibt historisch. Aber war sie je eine Gefahr für die Demokratie? Ist die sogenannte demokratische Mitte beschädigt?
Der Kern der Demokratie tritt im Abwählen zutageÜber das Wesen der Demokratie lässt sich streiten. Gewaltenteilung, Rechtsstaat, freie und faire Wahlen, all das gehört dazu, aber vor allem: die Möglichkeit, politische Entscheidungsträger abzuwählen. Im Akt des Abwählens tritt der Kern demokratischer Verfasstheit zutage. So, wie Demokratien gebaut sind, wählt nicht nur das Volk direkt, sondern auch seine rechtmäßigen Repräsentanten. Ein Abwahlakt oder – wie es am Dienstag der Fall war – ein Wahlverweigerungsakt ist daher eine Sternstunde der Demokratie. Dafür bedurfte es nicht einmal einer massiven Meuterei im Parlament, denn der Kandidat Merz verfügte ja nur über einen Überhang von zwölf Stimmen.
Für das Scheitern seines ersten Wahlgangs reichten einige versprengte Unzufriedene, Verletzte, die bei der Postenverteilung leer ausgingen, die aus beiden Parteien stammen können. 18 von ihnen waren es dann insgesamt im ersten Wahlgang. Eine konzertierte Aktion muss die Klatsche nicht gewesen sein, für einen solchen Putsch gibt es bislang keine Belege. Aber sie drückt eine große Unzufriedenheit aus. Der Apparat kam ins Stocken, das Getriebe knirschte, weil es selbst für eine Koalition, die früher einmal als Große bezeichnet worden wäre, nur eine knappe Mehrheit gibt.
Dass die Stimmverweigerung beim ersten Wahlgang so bedrohlich auf viele Beobachter wirkte, zeigt überdeutlich den deutschen Wunsch nach Stabilität. Die Sicherheit einer vollendeten Wahl sei wichtiger als ein Ort für den angestauten Unmut über politisches Versagen, so der Tenor, der von den Grünen bis zur AfD reichte. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sagte dann auch, dass die Menschen erwarteten, dass die künftige Koalition „eine Arbeitsgrundlage hat, die trägt“. Das klang fast danach, als hätte sie eine Merz-Regierung herbeigesehnt. Selbst AfD-Fraktionschef Bernd Baumann ließ verlautbaren: „Die Regierung wird instabil bleiben, das ist das Gegenteil von dem, was das Land braucht.“
Schwarz-Rot wird wie eine Minderheitsregierung agieren müssenNun gibt es eine Regierung unter einem Bundeskanzler Merz. Ob sie eine stabile sein wird, wird sich zeigen. Möglich ist, dass sie bei jeder Gesetzesverabschiedung um eine Mehrheit wird ringen müssen, so wie sie es am Dienstag tat. Zwar verfügt Schwarz-Rot über eine Mehrheit im Bundestag, aber sie wird dennoch wie eine Minderheitsregierung handeln müssen. Das könnte für demokratische Aushandlungsprozesse jedoch von Vorteil sein: Mehrheiten sind nicht sicher, reines Durchregieren ist unmöglich.
Wem wirklich am Gedeihen der Demokratie gelegen ist, der tut gut daran, nicht bei jedem unvorhergesehenen Ereignis gleich ihren Untergang auszurufen. Vergleiche mit der Weimarer Republik sind mittlerweile so überstrapaziert, dass es kaum noch auffallen würde, wenn die Gegenwart tatsächlich Parallelen zu jener Zeit aufwiese. Sie sind daher vor allem ein Anzeichen für die Denkfaulheit ihrer Urheber – und ihrer Hybris. Die Demokratie hätte auch eine vollzogene Nichtwahl von Merz überlebt und noch einiges mehr. Sogar eine Neuwahl. Wirklich sorgen sollte man sich, wenn Abwahlen nicht mehr möglich sind.
Berliner-zeitung