Großbritannien: Ausländerfeindlichkeit ist keine Wirtschaftspolitik

Der Herbst zieht ein ins Vereinigte Königreich, und mit ihm die Kälte. Mehr als 110 000 Wutbriten sind in London zu einer Demonstration gegen Migration gekommen. Ein Mann hielt in London ein Schild hoch: „Warum werden weiße Menschen verachtet, obwohl unsere Steuergelder alles finanzieren?“ Die Zeiten sind arg kompliziert, und da ist es ein Einfaches, Einwanderer und den vermeintlich zu toleranten Umgang der Regierung mit ihnen verantwortlich zu machen für jedwede staatliche und persönliche Misere – auch und vor allem für die wirtschaftliche. Die ist gar nicht zu leugnen. Kaum Wachstum, massive Staatsverschuldung und vor allem hohe Lebenshaltungskosten.
Doch die eigentliche Frage, die sich diese Frustrierten in diesen Tagen stellen sollten: Wie würde es denn dem Land wirklich ergehen unter einer neuen, rechten Regierung? Die Antwort wäre, selbst mit britischster Zurückhaltung ausgedrückt: katastrophal.
Die rechtspopulistische Reform UK ist die derzeit beliebteste Partei. Vorvergangenes Wochenende haben ihr Chef, der Brexit-Verführer Nigel Farage, und seine Leute auf einem zweitägigen Parteitag ihr Programm beworben. Eine wirtschaftspolitische Strategie war in Birmingham kaum herauszuhören, weil viele Fragen, unabhängig vom Thema, mit der Parole beantwortet wurden, man würde die Schlauchboote der illegalen Einwanderer stoppen. Hätte man die Politiker nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt, sie hätten „Stop the boats“ gesagt.
Vieles, was Farage sagt, klingt stark nach TrumpReform UK hat fantastische Versprechen im Angebot, etwa den Gesundheitsdienst NHS finanziell so zu dopen, dass die notorisch langen Wartelisten innerhalb von zwei Jahren gänzlich verschwinden. Weitere geplante Mehrausgaben, etwa für Polizei und Verteidigung, und Abgabensenkungen, etwa die Abschaffung der Erbschaftsteuer und die Erhöhung des Einkommensteuerfreibetrags, sollen zwar 140 Milliarden Pfund kosten. Dafür seien im öffentlichen Sektor 160 Milliarden Pfund einzusparen. Unter anderem das unabhängige Institute for Fiscal Studies misstraut der Rechnung und schätzt die Summe, die so einer Regierung tatsächlich jedes Jahr fehlen würde, auf mehrere zehn Milliarden Pfund. Wie fatal die Märkte auf solche Torheiten reagieren, hat das Land schon mal vor drei Jahren mit Liz Truss’ „Mini-Budget“ erlebt. Nebenbei sollen Leistungen für Langzeitarbeitslose und, natürlich, für Migranten drastisch gekürzt werden. Man will das Ziel der angestrebten Klimaneutralität im Jahr 2050 streichen und wieder verstärkt auf Öl und Gas setzen. „Drill, Baby, drill“, vieles klingt nach einem Helden der Partei, nach Donald Trump. Die Pläne müssen gar nicht moralisch bewertet werden, um sie kritisch zu sehen, es reicht, sie mathematisch zu betrachten.
Noch sind Farage und seine Fraktion im Parlament eine winzige Oppositionspartei. Er kann verantwortungslos von der Wut vieler Briten profitieren, die hilflose Labour-Regierung macht es ihm da einfach. Aber als Partei, die regieren will, vermittelt Reform UK keine Aufbruch-, sondern eine Abbruchstimmung. Den allermeisten Briten würde es jedenfalls unter Farage wohl noch schlechter gehen als heute. Aber, hey: Stop the boats!
süeddeutsche