Rabattschlachten in China: für die Volksrepublik sind die Überkapazitäten schlimmer als Trumps Zölle


Die Erfolgsmeldung des chinesischen Statistikamts NBS steht im Widerspruch zur wachsenden Unruhe in der Staatsführung. Chinas Wirtschaft soll nach offiziellen Daten vom Dienstag im zweiten Quartal um 5,2 Prozent gewachsen sein.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Doch die vergleichsweise guten Zahlen seien kein Grund zur Entwarnung, sagt Alicia García-Herrero, Asien-Pazifik-Chefvolkswirtin der französischen Investmentbank Natixis. Die positiven Einflussfaktoren hätten ihren Höhepunkt erreicht, die «Probleme kommen in der zweiten Jahreshälfte».
Chinas Staatsführung hatte im März ein Wachstumsziel von rund fünf Prozent gesetzt. Den offiziellen Daten zufolge befindet sich die zweitgrösste Volkswirtschaft trotz Handelskrieg auf Kurs: Sie legte im ersten Halbjahr um 5,3 Prozent zu.
Doch es gibt Zweifel an der Zuverlässigkeit der Daten. Denn das Wirtschaftswachstum ist im autokratischen China eher als politische Zielvorgabe zu verstehen, weniger als ökonomische Kenngrösse. Dennoch verrät ein Blick in die Details einiges über den Zustand der Wirtschaft – und über ihre Probleme.
Diese sind, anders als von der Staatsführung gerne suggeriert, in erster Linie hausgemacht: «Für Chinas Wirtschaft sind die Überkapazitäten schlimmer als Trumps Zölle», sagt García-Herrero dem Handelsblatt. Selbst wenn der US-Präsident für den Rest seines Lebens Urlaub in Florida machte, hätte China immer noch ein Problem, betont sie – und verweist auf den ruinösen Preiswettbewerb infolge der Überproduktion.
Kein erkennbarer WachstumstreiberDie steigenden Exporte, Hauptwachstumstreiber im ersten Halbjahr, haben die Probleme bislang teilweise überdeckt. Doch damit könnte es in der zweiten Jahreshälfte vorbei sein, warnen Experten.
Auch der Anstieg des privaten Konsums, getrieben vor allem durch das staatlich subventionierte Alt-gegen-Neu-Tauschprogramm, könnte sich als kurzlebig erweisen. Es gebe keine «erkennbaren Wachstumstreiber, die die Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2025 ankurbeln könnten», resümieren die Experten des Analysehauses China Beige Book (CBB).
Damit rücken die strukturellen Probleme der chinesischen Wirtschaft stärker in den Fokus:
Problem 1: Deflationsgefahr steigtSeit 33 Monaten fallen die Produzentenpreise in China. Die Unternehmen produzieren deutlich mehr, als auf dem Heimatmarkt nachgefragt wird. Sie überbieten sich mit Rabatten, um ihre Waren loszuwerden.
Die negative Preisspirale im produzierenden Gewerbe sei der wichtigste Grund dafür, dass «Deflation im zweiten Halbjahr zu einem zunehmenden Risiko zu werden droht», warnen die CBB-Analysten. Die meisten Ökonomen halten Deflation für volkswirtschaftlich gefährlicher als Inflation, weil Käufer sich laut ökonomischer Theorie in Erwartung noch niedrigerer Preise zurückhalten.
Inzwischen hat die Führung der herrschenden Kommunistischen Partei (KP) erkannt, dass sie gegensteuern muss. Man werde gegen den «ungeordneten» Wettbewerb mit immer niedrigeren Preisen vorgehen und den Abbau veralteter Produktionskapazitäten fördern, kündigte das zentrale Komitee für Finanzen und Handel unter der Leitung von Staats- und Parteichef Xi Jinping Anfang des Monats an.
Problem 2: Chinas Unternehmen geht das Geld ausDer Preiskrieg und die verhaltene Binnennachfrage haben zur Folge, dass die Industriegewinne sinken. Viele von Chinas Firmen hätten «kaum noch Luft zum Atmen», sagt García-Herrero. Die Zahl der Zombie-Firmen stieg einer Natixis-Analyse zufolge zuletzt deutlich.
Besonders dramatisch ist die Auslese im Segment der erneuerbaren Energien. Chinas Unternehmen dominierten oberflächlich betrachtet zwar diesen Markt, doch bei genauerem Hinsehen «zahlen sie einen hohen Preis für diese Dominanz», so die Expertin.
Problem 3: Private Investitionen fehlenFehlende Gewinnperspektiven und wachsende Unsicherheit sorgen dafür, dass private Unternehmen und Verbraucher kaum noch investieren. Das zeigen am Montag veröffentlichte Investmentdaten der chinesischen Zentralbank.
Zwar stiegen zuletzt die staatlichen Investitionen, allen voran in grüne Infrastruktur. Doch Unternehmen und Haushalte nahmen im Juni weniger Kredite auf, weiss Lynn Song, China-Chefvolkswirt der niederländischen Bank ING. Die Kreditnachfrage gilt als guter Indikator für die künftige Entwicklung der Wirtschaft.
Die geringe Nachfrage von Unternehmen ist insofern bemerkenswert, als die Kreditkosten für die Industrie historisch niedrig seien, betont Derek Scissors, Chefökonom von CBB. Doch selbst die niedrigen Zinsen hätten nicht zu einer stärkeren Nachfrage nach Krediten geführt. Damit drohe die «geldpolitische Feuerkraft ihre Wirkung zu verlieren».
Problem 4: Geringe ProduktivitätDer Negativtrend aus Überkapazitäten und ruinösem Preiswettbewerb ist auch eine Folge der staatlichen Förderung von Zukunftsbranchen, von der Staatsführung als «neue Produktivkräfte» gefeiert. Sie sollten dabei helfen, die Wirtschaft zu modernisieren und für künftiges Wachstum sorgen.
Doch trotz hoher Investitionen in den vergangenen Jahren sei die Produktivität nicht gestiegen, sagt García-Herrero. Innovationen trieben bislang das Wachstum nicht an.
Problem 5: Immobilienkrise schwelt weiterHinzu kommt, dass die Krise auf dem Immobilienmarkt weiterhin anhält, allen staatlichen Stützungsmassnahmen zum Trotz. Angesichts weiter sinkender Preise sanken die Investitionen in Immobilien im ersten Halbjahr um mehr als 11 Prozent. Im Juni waren die Preise für Neubauwohnungen um knapp 0,3 Prozent zurückgegangen, so stark wie seit acht Monaten nicht mehr.
Die schlimmsten Zeiten seien vielleicht vorbei, doch der «Sektor ist auch kein Wirtschaftsmotor», schreiben die CBB-Experten. Vor der Krise trug die Bauwirtschaft direkt und indirekt bis zu einem Drittel zum Wirtschaftswachstum bei. Die anhaltende Krise bremst die gesamtwirtschaftliche Erholung. In den vergangenen Tagen mehrten sich Gerüchte über einen erneuten staatlichen Rettungsversuch. Doch es gibt ein Grundproblem: Da Chinas Bevölkerung schrumpft, fehlt die Nachfrage nach neuen Immobilien.
Problem 6: TrumpDer Handelskrieg zwischen China und den USA verschärft die Probleme weiter, weil der Zugang zum wichtigsten Auslandsmarkt erschwert wird. Trotz der Anfang Mai vereinbarten 90-tägigen Zollpause sind die US-Zölle auf viele chinesische Einfuhren 30 Prozentpunkte höher als vor Trumps zweiter Amtszeit.
Bislang schade dies der chinesischen Wirtschaft kaum, auch weil Exporte in andere Länder stark wachsen, betont Garcia Herrero. Sollte es jedoch bei diesem Zinsniveau bleiben, könnte dies Chinas Wirtschaftswachstum künftig um 1,6 Prozentpunkte reduzieren. Vier bis sechs Millionen Arbeitsplätze seien gefährdet.
Doch Trumps Politik wirkt sich nicht nur auf den direkten Handel zwischen den beiden Grossmächten aus. Der US-Präsident versucht durch Handelsabkommen mit Drittstaaten wie Vietnam zu verhindern, dass China seine Exporte über diese Länder umleitet.
Debatte über künftige WachstumstreiberNach der ungewöhnlich offenen Kritik der Parteispitze an Überkapazitäten ist unter Chinas Ökonomen und Politikberatern eine Debatte über künftige Wachstumstreiber entbrannt. Sie wird auch deshalb besonders engagiert geführt, weil derzeit der neue Fünfjahresplan für die Jahre 2026 bis 2030 in Arbeit ist.
In den bisherigen Fünfjahresplänen sei der Nachfrageseite der Wirtschaft nicht genügend Bedeutung beigemessen worden, zitiert das Wirtschaftsmagazin «Caixin» den Politikberater Yang Weimin. Er war Vizedirektor des Wirtschaftskomitees der Konsultativkonferenz, des höchsten Beratergremiums der Staatsführung, und an der Ausarbeitung früherer Fünfjahrespläne beteiligt.
Yang plädiert für eine Steigerung des Anteils des privaten Konsums am Bruttoinlandprodukt auf über 50 Prozent bis 2035. Das würde Chinas Wirtschaft wesentlich stabiler machen.
Angesichts der aktuellen Herausforderungen müsse «eine Steigerung der Binnennachfrage, insbesondere des privaten Konsums, eine zentrale Aufgabe sein, um Wachstum zu erzielen», fordert auch Wang Yiming, der früher bei der einflussreichen Reform- und Entwicklungskommission NDRC am Entwurf der Fünfjahrespläne mitarbeitete.
Förderung von Produktion statt KonsumForderungen nach einer Stärkung der Binnennachfrage sind keineswegs neu. Die Staatsführung rede «endlos davon, den Konsum anzukurbeln, aber zwanzig Jahre Gerede haben nichts bewegt», kritisieren die Experten von CBB. Bislang setzte sie stattdessen auf eine Förderung der Produktion, auch weil das mehr Kontrolle darüber gibt, in welche Sektoren das Geld fliesst.
Ob der Druck nun gross genug ist, von diesem Mantra abzurücken, dürfte sich in den kommenden Wochen zeigen. Nicht nur über neue Massnahmen zur Stabilisierung der Immobilienbranche wurde zuletzt spekuliert. Auch beim Treffen des KP-Politbüros Ende Juli steht traditionell die Wirtschaft im Fokus.
nzz.ch