«Trump kneift immer»: Die Taco-Wette der Anleger sorgt für steigende Börsenkurse – trotz Kriegen und Zöllen


Im Lied «Land of Confusion» thematisierte die britische Rockgruppe Genesis 1986 das im Kalten Krieg herrschende aggressive Polit-Klima sowie die Angst vor einem Atomkrieg. «Viele meiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen wissen kaum mehr, wer Phil Collins ist», scherzt Guy Miller, Chef-Marktstratege und -ökonom beim Versicherer Zurich. Doch der Song der Band des berühmten Sängers und Schlagzeugers hat fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen eine beängstigende Aktualität – was Miller dazu gebracht hat, seinen neuen Halbjahres-Börsenausblick nach ihm zu benennen.
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«Auch in der heutigen politischen Landschaft ist die Verwirrung mit Händen zu greifen», sagt Miller als Begründung. Der US-Präsident Donald Trump sorgt mit seinen Erlassen und seiner erratischen Politik für Ungewissheit auf der Weltbühne. Zudem wenden sich die USA vom Freihandel ab. Damit nicht genug, ist unter Trump auch oftmals unklar geworden, wer Freund und Feind der USA ist. Hinzu kommen die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine. Ungewöhnlich sei auch, dass Deutschland in dieser neuen Situation plötzlich ein Hunderte Milliarden schweres Konjunkturprogramm aufgelegt habe.
Die vielen Wendungen und Wirrungen könnten die Anleger ratlos zurücklassen. Schliesslich heisst es, die Börse hasse nichts mehr als Unsicherheit. Doch obwohl diese im ersten Halbjahr mit Händen zu greifen war, haben die führenden Börsen seit Anfang Jahr massiv zugelegt – zumindest in den vergangenen Wochen und in der eigenen Währung gerechnet.
Seit Anfang Jahr liegt der amerikanische Leitindex S&P 500 mit 6,4 Prozent im Plus. Der europäische Euro-Stoxx 50 verbucht im selben Zeitraum ein Plus von rund 10 Prozent, während der deutsche DAX sogar Rekordhöhen erklimmt und 21,8 Prozent zugelegt hat. Bescheidener fällt da der Gewinn des Schweizer Standardwerte-Barometers Swiss-Market-Index (SMI) mit 2,9 Prozent aus.
Fünf Gründe für den AnstiegWie passen Unsicherheit und steigende Aktienkurse zusammen? Geldanlageexperten nennen dafür mehrere Gründe.
Der Glaube an Taco – «Trump always chickens out»: Die selten um einprägsame Abkürzungen verlegenen Börsenexperten haben sich auf ein neues Lieblingsschlagwort geeinigt, das Ordnung in die komplexe politische Situation in der US-Politik bringen soll und sie zu Aktienkäufen ermutigt: Taco, kurz für «Trump always chickens out» – oder zu Deutsch: «Trump kneift immer». Dahinter steht kurz gesagt die Hoffnung, Trumps Ankündigungen von Zöllen würden letztlich «weniger heiss gegessen als gekocht». Wenn es an den Börsen aufgrund seiner Politik zu Turbulenzen komme, lenke er stets ein, so lautet die Annahme.
Genau dies geschah im Frühjahr, als Trump an seinem selbsterklärten «Liberation Day» am 2. April zunächst monströse Zölle gegenüber sämtlichen wichtigen Handelspartnern verhängte, diese wenige Tage danach aber vorübergehend aussetzte. Zuvor hatte sich die Lage an den Anleihenmärkten zunehmend zugespitzt, und die Renditen von US-Staatsanleihen waren deutlich gestiegen.
Einige Aktienindizes hatten zu diesem Zeitpunkt rund 20 Prozent verloren, was generell an der Börse als Schwelle zu einem Bärenmarkt definiert wird. Dann änderte sich die Situation, und die Aktienmärkte setzten zu einer deutlichen und schnellen Erholung an. «Der Glaube an Taco war dafür der Hauptgrund», sagt Thomas Rühl, Anlagechef der Schwyzer Kantonalbank.
Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die Gewinne bei US-Aktien für europäische und Schweizer Anleger durch den schwachen Dollar geschmälert würden. Mit Anlageprodukten auf den S&P 500 oder auch den Welt-Aktienindex MSCI All Country World Index (ACWI) – in dem die USA ein hohes Gewicht haben – liegen sie im Minus, sofern sie das Dollar-Franken-Währungsrisiko nicht abgesichert haben.
Keine Rezession der US-Wirtschaft erwartet: «Zudem gibt es derzeit wenig Anzeichen in den Konjunkturindikatoren, die auf einen wirtschaftlichen Abschwung in den USA hindeuten», sagt Rühl. Im April dieses Jahres seien Ökonomen und Anleger kurzzeitig davon ausgegangen, Trump ziehe seine protektionistische Handelspolitik ohne Kompromisse durch und führe die US-Wirtschaft und gar die Weltwirtschaft in eine Rezession. Im Anschluss habe Trump aber gezeigt, dass er auf Marktsignale reagiere und im Notfall zurückrudere.
Hoffnung auf Erholung von Europas WirtschaftStützende Fiskalimpulse: «Bei den Investoren ist zudem die Hoffnung gestiegen, dass die europäische Wirtschaft aufgrund der deutlich expansiveren Fiskalpolitik aus der Stagnation herausfindet», sagt Rühl. Viele seien von der Entwicklung überrascht worden und hofften nun auf steigende Kurse bei Aktien, die von den geplanten milliardenschweren Investitionen in den Rüstungs- und Infrastruktursektor profitierten. Zudem seien die Hoffnungen auf ein stärker geeintes Europa gewachsen.
Die starke Performance der europäischen Aktienmärkte erkläre sich indessen vor allem durch die Umschichtungen von Grossinvestoren von amerikanischen in europäische Titel, sagt Matthias Geissbühler, Anlagechef von Raiffeisen Schweiz.
Die im neuen US-Haushaltsgesetz «Big Beautiful Bill» vorgesehenen Steuersenkungen dürften zudem in den USA fiskalpolitische Impulse liefern, so die Erwartung von Thomas Heller, Anlagechef der Frankfurter Bankgesellschaft. Die Kehrseite seien indessen das höhere Budgetdefizit und die immer höhere Staatsverschuldung. «Es stellt sich die Frage, wann Defizite und Verschuldung stärker in den Fokus der Finanzmärkte kommen», sagt er. Derzeit sei dies nicht der Fall, die Märkte seien «überraschend entspannt».
Starke Nachfrage von US-Privatanlegern nach Aktien: Als weiteren Faktor für die steigenden US-Aktienkurse geben Marktbeobachter die starke Nachfrage von amerikanischen Privatanlegern an. Diese hätten in den vergangenen Monaten Korrekturen an den Börsen dazu genutzt, um Aktien zuzukaufen, sagt Geissbühler. Dieses Phänomen ist im Börsenjargon unter dem Namen «Buy the dip» – «Kaufe bei einem Rückschlag» – bekannt.
Kriege betreffen die Unternehmensgewinne kaum: Es bleiben noch die enormen geopolitischen Unsicherheiten – namentlich der Konflikt im Nahen Osten und der Ukraine-Krieg –, die den Anstieg der Börsenkurse nicht verhindert haben. Wieso war dem so? Im Zuge des Israel-Iran-Krieges hätten sich die Unsicherheiten im Juni zwar vorübergehend erhöht, sagt Heller. Solche Konflikte hätten aber nur dann einen Einfluss auf die Weltkonjunktur, wenn Rohstoffe – und besonders das Erdöl – deutlich teurer würden. Dies sei momentan nicht der Fall.
Die Risiken im Nahen Osten seien bereits in den Aktienkursen enthalten, sagt Rühl. Zudem habe es zumindest keine weitere Eskalation gegeben. Das Risiko bleibe aber, dass der Konflikt auf eine andere Art und Weise eskaliere, beispielsweise durch Cyber- oder Terrorangriffe. Letztlich hätten aber weder der Konflikt im Nahen Osten noch der Ukraine-Krieg einen wesentlichen negativen Einfluss auf die Unternehmensgewinne, sagt Miller.
US-Regierung will Rezession vermeidenDer Zurich-Vertreter rechnet für das zweite Halbjahr mit weiter steigenden Aktienkursen, wenn auch vor dem Hintergrund der Volatilität an den Märkten. Die Investoren hätten gesehen, wie wichtig es der US-Regierung sei, eine Rezession und einen Börsen-Bärenmarkt zu vermeiden. Würden die Risiken dafür steigen, sei davon auszugehen, dass sie ihre Politik erneut anpassen werde. Dies spreche auch relativ gesehen für den US-Aktienmarkt. Die USA hätten immer noch den grössten und liquidesten Finanzmarkt auf der Welt, und der schwache Dollar könnte den Gewinnen von US-Unternehmen Rückenwind verleihen.
Es bestehe indessen das Risiko, dass das Wachstum der US-Wirtschaft signifikant nachlasse. Dies könnte dadurch ausgelöst werden, dass sich die Taco-Hoffnungen der Anleger doch nicht bewahrheiteten und die Trumpschen Zölle noch höher ausfielen als befürchtet. Letztlich wirkten die Zölle wie eine Steuer, welche die US-Haushalte bezahlen müssten – und zwar in Form höherer Preise. Dies könnte die Inflation antreiben und die Konjunktur schwächen.
Heller hält das fundamentale Umfeld für Aktien indessen für weiterhin intakt. Die geopolitischen Risiken, vor allem der Handelskonflikt, blieben aber latente Risikofaktoren.
Rühl rechnet derweil für die nächsten Monate mit einer Seitwärtsbewegung der Aktienkurse. So sei unter anderem mit einer Abschwächung der US-Konjunktur zu rechnen. Die Entwicklung des Schweizer Aktienmarkts sei zudem von den drohenden US-Zöllen auf Pharma-Einfuhren überschattet – auch wenn Trumps Drohungen, Zölle über 200 Prozent einzuführen, wohl als unglaubwürdig anzusehen seien.
nzz.ch