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ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib

ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib

Wenn Larissa* sich mit Freundinnen und Freunden trifft, stellt sie sich vorher einen Wecker auf 20 Minuten. Mehr ist nicht drin. Wenn sie über ihre Grenze geht, folgt der Crash. Das fühle sich dann ein bisschen so wie Sterben an, sagt sie.

Menschen mit ME/CFS sind permanent erschöpft. So erschöpft, dass sie kein normales Leben führen können. Mehr als die Hälfte der Betroffenen kann nicht mehr arbeiten. Larissa verbringt die meiste Zeit im Liegen. In einem abgedunkelten Raum, mit Stöpseln in den Ohren und Maske auf den Augen. Nach allem, was sie tut, braucht sie 30 bis 45 Minuten Pause. Aufwachen – ausruhen. Zur Toilette gehen – ausruhen. Zähneputzen – ausruhen. Essen – ausruhen. Als sie vor Kurzem mal eine Viertelstunde lang gebadet hat, war sie danach fünf Tage lang k.o.

Was ist ME/CFS?

ME/CFS, das steht für Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom. Die neuroimmunologische Erkrankung führt oft zu schwerer körperlicher Behinderung. Viele Betroffene haben starke Schmerzen, Muskelkrämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme, sie fühlen sich grippig und haben Schlafstörungen. Aufrechtes Sitzen oder Stehen ist schwierig. Und auch das Gehirn spielt nicht mehr richtig mit: “Gedanken verschwinden einfach aus meinem Kopf", sagt Larissa. “Ich finde sie dann nicht mehr." Sich mehrere Dinge gleichzeitig zu merken, fällt ihr schwer. Mit Anfang 30 liest sie wieder Kinderbücher, mit großer Schrift und vielen Bildern.

Für diesen Artikel hat Larissa über Wochen hinweg in vielen kurzen Sprachnachrichten ihr Leben beschrieben. “Manche von uns sagen, man kann sein Leben verlieren, ohne zu sterben", schreibt sie. “Ich kann verstehen, was sie meinen".

Wie kommt es zu ME/CFS?

Meist beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit, zum Beispiel nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder einer Grippe. Bei Larissa war es COVID-19. Innerhalb weniger Wochen ging es ihr extrem schlecht. Sie hatte das Gefühl, sich wie durch Wasser zu bewegen, so schwer war auf einmal die Luft. Stehen wurde zur Herausforderung. Selbst Fernsehgucken war zu anstrengend. Es folgten Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Nervenschmerzen, Kopfschmerzen. Dann Schlafstörungen und Tinnitus, schließlich Übelkeit und Probleme beim Laufen.

Larissa tingelte von Arzt zu Arzt. Sie solle positiv denken, Gemüse essen, Yoga machen. Als man ihrer Erschöpfung mit Physiotherapie, Ergotherapie und kalten Kniegüssen heilen will, bricht ihr Körper vollends zusammen. Larissa sitzt fortan im Rollstuhl.

Es ist typisch für ME/CFS, dass bereits geringen Belastungen die Symptome verstärken. Post-Exertionelle Malaise (PEM) heißt das. Manchmal bleiben die Symptome danach dauerhaft schlechter. Als wäre sie einen Berg hochgerannt, sagt Larissa. Dabei hat sie nur Zähne geputzt. Andere beschreiben den Zustand, als hätte man gleichzeitig Grippe, Kater und Jetlag.

“Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben"

Was das Leben für Larissa ausmacht: Entscheidungen treffen, Pläne machen, Dinge erleben. Licht, Geräusche, Gefühle. Sich unterhalten. Nachdenken.

Was ihr Körper toleriert: In Stille liegen. Möglichst nichts denken. Möglichst nichts fühlen.

“Eigentlich ist alles, was ich tue, ein Kampf", sagt Larissa. “Aber ich verliere diese Kämpfe ständig." Zum Beispiel den Kampf der Körperhygiene. Einmal pro Woche eine Gesamtwäsche ist nur eine ihrer Fronten. Larissa muss sich entscheiden: “PEM oder Saubersein."

Dass das nicht für immer so weiter geht, ist für sie inzwischen eine beruhigende Aussicht. “Falls ich einmal Sterbehilfe in Anspruch nehmen sollte, dann nicht, weil ich sterben möchte. Sondern aus Liebe zum Leben", sagt sie. “Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben. Aber ich kann es nicht mit dieser Erkrankung."

Larissas Fall ist schwer. Es gibt mildere Verläufe, bei denen die Betroffenen noch arbeiten und ein einigermaßen selbständiges Leben führen können. Manchen geht es aber noch schlechter als ihr: so schlecht, dass sie nicht einmal mehr ihren Arm heben können. Dass bereits die reine Anwesenheit einer anderen Person ihren Zustand verschlechtert.

Larissa hat ME/CFS und kann nicht viel mehr als Liegen
Larissa* hat ME/CFS und kann nicht viel mehr als LiegenBild: privat
Ein Erklärungsansatz: Die gestörte Durchblutung

Auch wenn man ME/CFS schon seit mehr als 50 Jahren kennt, ist immer noch nicht ganz klar, was genau dabei im Körper passiert. Lange gab es zwar viele unzusammenhängende Befunde, aber keine Erklärung für das große Ganze.

Ein vielversprechender Ansatz: “Wir wissen, dass bei ME/CFS die Durchblutung nicht angepasst wird", sagt Carmen Scheibenbogen. Sie leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum und gilt in Deutschland als führende Expertin für die Multisystemerkrankung. Gerade die Durchblutung des Gehirns und der Muskulatur leidet. “Wenn man die Durchblutungsstörung als einen zentralen Krankheitsmechanismus ansieht, kann man auch das Krankheitsbild gut erklären." Das Muskelkater-ähnliche Gefühl, die Konzentrationsstörungen, die Erschöpfung. Der Körper funktioniert nur gut, wenn ausreichend Sauerstoff im Gewebe ankommt und ausreichend Energie produziert wird.

Das Team von Carmen Scheibenbogen untersucht derzeit, ob ein Medikament, das man bei Herzinsuffizienz einsetzt, auch ME/CFS-Patienten helfen kann. Dieses Medikament unterstützt die Blutgefäße dabei, sich zu weiten. Ein Mechanismus, der bei ME/CFS-Betroffenen nicht mehr gut funktioniert.

Das Immunsystem richtet sich gegen den Körper

Außerdem kommt bei ME/CFS-Patienten das Immunsystem nach der auslösenden Infektion nicht zur Ruhe, kleine Entzündungen lodern weiter. Antikörper, die eigentlich gegen die Infektion gerichtet waren, richten sich manchmal gegen den Körper selbst, zum Beispiel gegen Nervenzellen. Besonders betroffen scheint das autonome Nervensystem zu sein, das all jene Prozesse steuert, die wir gar nicht mitkriegen: unseren Herzschlag oder Blutdruck.

Viele Studien fokussieren sich auf spezielle Antikörper, die an Stressrezeptoren andocken und die Stressantwort des Körpers stören. Passend zu den Symptomen: ME/CFS-Patienten fühlen sich oft wie im Dauerstress oder sind schnell erschöpft. Ihre angemessene Reaktion auf Stress ist außer Gefecht. Da Stressrezeptoren auch die Durchblutung steuern, kann das dazu führen, dass der Körper diese bei Belastung nicht richtig anpasst.

Vor rund zehn Jahren hat Carmen Scheibenbogen bereits untersucht, was passiert, wenn man diese Antikörper aus dem Kreislauf der Betroffenen auswäscht. Tatsächlich ging es vielen damit schnell besser. Eine Übersetzung in die Standard-Therapie haben Studien wie diese jedoch noch nicht erreicht. Und dies ist nur ein Erklärungsansatz, der wahrscheinlich nicht für alle Patienten zutrifft.

Was kann man tun?

Bis heute gibt es für ME/CFS keine Therapie, die an den Wurzeln ansetzt. Meist wird versucht, die Symptome zu lindern. Die wichtigste Maßnahme ist das “Pacing", bei dem Betroffene lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und sie nicht zu überschreiten. Für Larissa heißt das oft: Ohrstöpsel rein. Augenmaske auf. Leben im Liegen.

Es fehlen klinische Studien, die sich auf die fehlgeleitete Immunantwort des Körpers stürzen, genauer gesagt auf B-Zellen, die die Auto-Antikörper herstellen. Medikamente, die das können, gibt es eigentlich – allerdings sind sie für andere Erkrankungen zugelassen. Pharmafirmen zeigten geringes Interesse, Studien für ME/CFS durchzuführen, sagt Carmen Scheibenbogen.

Bis bessere Medikamente zur Verfügung stehen, werde es noch Jahre dauern, sagt die Ärztin. Sie sei aber zuversichtlich, dass ME/CFS gut behandelbar sei. “Ich halte das für Erkrankungen mit einer großen Chance auf eine vollständige Heilung".

Langer Kampf um Aufmerksamkeit

ME/CFS ist seit 1969 eine offiziell anerkannte Erkrankung. Weltweit sind geschätzt 17 Millionen betroffen, Frauen deutlich häufiger als Männer. Keine seltene Erkrankung also. Es ist die “häufigste nicht verstandene schwere Erkrankung", sagt Carmen Scheibenbogen.

Lange wurde ME/CFS als psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung fehlgedeutet. Das ist manchmal noch heute so. Auch bei Larissa stand erst einmal Burnout im Raum. An Universitäten werde die Erkrankung oft häufig nicht oder falsch gelehrt, sagt die Ärztin Carmen Scheibenbogen. “Und wenn man das Krankheitsbild nicht kennt, geht man gerne mal davon aus, dass das so eigentlich alles gar nicht sein kann und es sich wahrscheinlich um eine funktionelle Erkrankung handelt".

Larissa sagt: “Wir werden unsichtbar gemacht”. Für sie trägt auch das Gesundheitssystem Schuld daran, dass es ihr immer schlechter geht. Kritische Momente: Als sie in der Long-COVID-Ambulanz im Licht der Neonröhren ausharren musste. Als die Ergotherapeutin sie zur Tanztherapie motivieren wollte. Als sie im Kognitionstest nicht mehr konnte. Larissa hält das Gesundheitssystem für ME/CFS-Patientinnen gar für gefährlich. “Weil es von uns abverlangt, über unsere Grenzen zu gehen.“

Um wieder sichtbar zu werden, legen sich am 10. Mai in ganz Deutschland Betroffene auf die Straße. Larissa hat die Demonstration mit organisiert. Teilnehmen kann sie nicht. Ihr fehlt sogar zum Liegen die Kraft.

*Name von der Redaktion geändert.

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