Zweiter Weltkrieg: Wie sich Menschen an ihr Kriegsende 1945 erinnern

Berlin. Albrecht Weinberg war immer ganz kurz davor, befreit zu werden. Im Januar 1945 nach zwei Jahren Zwangsarbeit für die I.G. Farben im Auschwitzer Außenlager Buna-Monowitz, im April 1945 nach Todesmärschen in Neuengamme und in Mittelbau-Dora. Doch jedes Mal, bevor Briten, Sowjets oder US-Amerikaner die Konzentrationslager erreichten, verschleppte die SS Weinberg und seine Leidensgefährten erneut.
Im KZ Bergen-Belsen bei Celle landete der 20-jährige Jude zwischen dem 11. und 14. April 1945 „mehr tot als lebendig“, erzählt Weinberg in seiner Wohnung in Leer (Ostfriesland). „Ich wog damals 29 Kilogramm, sagte man mir, ich war ein mit Haut überzogenes Skelett.“ In eine Baracke wird er gar nicht mehr gebracht. „Die haben mich einfach auf dem Appellplatz liegengelassen, umgeben von unzähligen Toten und Halbtoten wie mir.“
Als britische Truppen am 15. April 1945 das KZ übernahmen, blickten die Soldaten in die Hölle. 53.000 Häftlinge, unter ihnen Albrecht Weinberg, konnten sie befreien. Doch für Tausende kam die Rettung zu spät. Allein bis Juni 1945 starben etwa 14.000 Menschen an den Folgen ihrer KZ-Haft. Als die Militärs ins Lager eindrangen, schloss der Jude Weinberg mit dem Leben ab. „Ich dachte, die erschießen uns jetzt endlich. Dass es keine deutschen Uniformen waren, erkannte ich nicht mehr.“

Ehemalige SS-Angehörige mussten nach der Befreiung der Überlebenden des KZ Bergen-Belsen die Toten in Massengräbern verscharren.
Quelle: imago images/Everett Collection
War er glücklich in dieser Stunde? „Glücklich?“, fragt er zurück. „Ich ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass ich der Einzige war, der von uns überlebt hat. Und ich fragte mich, warum verdammt noch mal.“ Erst Wochen später, erfuhr Albrecht Weinberg, dass seine älteren Geschwister Dieter und Friedel ebenfalls am Leben waren. Die Eltern waren in Auschwitz ermordet worden.

Der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg (Jahrgang 1925) heute und 1943 (l.) mit seinen Geschwistern Friedel und Dieter.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Als der 14-jährige Gustav-Adolf Schur im 140 Kilometer südöstlich von Bergen-Belsen entfernten Heyrothsberge nach oben schaute, sah er den blauen Himmel voller Flugzeuge. „Es waren bestimmt mehr als einhundert“, erinnert er sich, „ein wirklich beeindruckender und schöner Anblick.“ Dann plötzlich hätte ein Rauschen eingesetzt. „Jemand schrie: ‚Das sind Bomben’, dann spürten wir schon die ersten Einschläge. Wir rannten um unser Leben, verkrochen uns in selbst gebauten Unterständen und Bunkern. Wenn da eine Bombe drauf gefallen wäre, würde es uns nicht mehr geben. Ich hatte genauso die Hosen voll wie der deutsche Soldat, der neben mir lag.“
Was die spätere DDR-Radsportlegende Täve (Abkürzung für Gustav) Schur im letzten Kriegsjahr 1945 in seinem Heimatort bei Magdeburg erlebte, können viele Deutsche seiner Generation nachempfinden. Der 94-Jährige, der heute wieder in seinem Geburtsort lebt, sagt, die Ereignisse des Jahres 1945 hätten aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Doch dazu später mehr.
Der Zweite Weltkrieg war dorthin zurückgekehrt, wo er seinen Ausgang genommen hatte. Im Herbst und Winter 1944 bröckelte nach dem letzten und blutigen Aufbäumen der Wehrmacht gegen Briten und US-Amerikaner die Westfront und brach schließlich zusammen. Die US-Army überquerte Ende März 1945 den Rhein.
Im Osten hatte die Rote Armee im Januar die sogenannte Weichsel-Oder-Operation gestartet. Die deutsch-sowjetische Front zwischen der Ostsee und den Karpaten war 1200 Kilometer breit. Am 19. Januar 1945 überquerten die ersten sowjetischen Truppen die Grenzen des Deutschen Reichs und befreiten am 27. Januar 1945 die Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau. Vier Tage später erreichten die ersten sowjetischen Truppen die Oder.
Am 16. April 1945 begann die verlustreiche Schlacht um die Seelower Höhen. Damit leitete die Sowjetarmee ihren Angriff auf Berlin ein. Am 25. April trafen sich US-amerikanische und sowjetische Truppen in Torgau an der Elbe. Die Briten befreiten den Nordwesten und den Nordosten des Deutschen Reichs bis zur Hansestadt Wismar. US-Truppen besetzten Süddeutschland, die Franzosen den Südwesten. Die Aufteilung Deutschlands begann.
Täve Schur (94)
DDR-Sportlegende
Als Wehrmacht-Generaloberst Alfred Jodl am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der verbliebenen deutschen Einheiten erklärte, waren seit Kriegsbeginn am 1. September 1939 schätzungsweise 600.000 deutsche Zivilisten ums Leben gekommen. Die Deutschen hatten mehr als sechs Millionen jüdische Menschen systematisch ermordet. Insgesamt kostete der Zweite Weltkrieg 70 Millionen Menschen das Leben. Allein die Sowjetunion beklagte 24 Millionen Tote. „Niemals zuvor“, schrieb Historiker Joachim Fest, „sind im Zusammenbruch eines Reichs so viele Menschenleben ausgelöscht, so viele Städte vernichtet und ganze Landstriche verwüstet worden.“
Täve Schur hat das Kriegsende nicht als Befreiung empfunden. „Für mich war es eine Niederlage.“ Sein Vater war bei der SA und arbeitete als Tankwart auf einem nahegelegenen Militärflugplatz. Er erzog seine fünf Kinder „stramm nationalsozialistisch“, erzählt der Mann, der von 1958 bis 1990 für die SED in der DDR-Volkskammer und von 1998 bis 2002 für die PDS im Bundestag saß. „Ich war ein Pimpf, ein kleiner Faschist. Erzogen wurde ich als Sieger, als Unschlagbarer, als ‘Mitglied der edelsten Rasse der Welt‘.“

DDR-Sportlegende Täve Schur (Jahrgang 1931) heute und 1937.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Vor dem Haus der Schurs am Fuchsberg rasselten ständig Panzerketten übers Granitpflaster. Die Panzer kamen vom oder fuhren zum Heereszeugamt im benachbarten Königsborn, wo sie ausgerüstet wurden. „Als Pimpfe halfen wir gern beim Beladen mit Munition, der Sieg über Russen und Amis stand für uns fest.“ Die ständigen Alarme vor Fliegerangriffen auf das nahe Magdeburg oder den Eisenbahnknotenpunkt waren eher ein notwendiges Übel, so der frühere Sportler.
Plötzlich war der Krieg vorbei. Das nahe Magdeburg war von US-Truppen eingenommen worden. „Dann kamen im Mai die Russen in ihren Panjewagen, weit und breit war kein Panzer zu sehen, und besetzten Heyrothsberge. Ich konnte es einfach nicht begreifen: Das sollten diejenigen sein, die unsere Wehrmacht verhauen haben? Das alles in den Kopf zubekommen, fiel mir als 14-Jährigem sehr schwer.“
Susi Spiegel (91)
Seniorensportlerin
Eine frühere Mitschülerin lebt heute noch in Täves Nachbarschaft in Heyrothsberge. Die heute 92-jährige Susi Spiegel hat bis 1990 bei der Deutschen Reichsbahn der DDR gearbeitet und ist eine Legende im Seniorensport. Sie begann 1965 mit Badminton, damals noch Federball genannt. 2017 spielte sie ihr letztes Turnier, errang über 70 Meistertitel in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland, gewann vier Weltmeisterschaften und errang Titel bei den „World Master Games“ 2009 in Sydney. Sie sagt: „Das Kriegsende war für mich eine Erlösung.“
Die Soldaten der Roten Armee waren plötzlich da gewesen. „Uns Kindern taten die Russen nichts, und meine Mutter, damals 51, hatte sich mit einem Kopftuch äußerlich älter gemacht.“ Die Familie, erinnert sich Susi Spiegel, war inzwischen völlig mittellos und litt Hunger. „Wir hatten nichts mehr, aber wir konnten wieder ruhig schlafen. Das habe ich sogar als Kind schon so empfunden.“

Susi Spiegel (Jahrgang 1932) heute und 1939 im Alter von sieben Jahren.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Spiegel erzählt, dass sie und ihre fünf Geschwister umsorgt aufwuchsen. Der Vater war Eisenbahner im Stellwerk. „Meine Eltern waren keine Nazis, sie erzogen uns eher kritisch - aber vorsichtig.“ Was Krieg bedeutete, erfuhr die damals Zwölfjährige, als sie im Februar oder März 1945 auf dem Nachhauseweg von der Schule trödelte und in einen Angriff von Tieffliegern geriet. „Man konnte die Piloten in der Kanzel sehen. Die schossen auch auf Kinder.“ Das Mädchen hatte Glück, konnte sich unter Bäumen verstecken. „Als ich nach Hause kam, bekam ich Dresche von meiner Mutter, die noch vor Angst um mich zitterte.“
Als Kind, erzählt Spiegel, hätte sie sich immer gefürchtet - vor Panzern, Flugzeugen, Soldaten. „Susi hatte immer Angst“, sagt sie über sich. Doch das Kriegsende war für sie nicht nur Erlösung. Ihre damals 25-jährige Schwester starb am 15. Mai 1945 an Diphtherie. Sie hinterließ zwei Kinder, so Spiegel. Die bei ihnen im Hof einquartierten sowjetischen Soldaten und Offiziere halfen nicht. „Vielleicht verstanden sie uns nicht oder wollten nicht, ich kann es nicht sagen. Mein Vater hat jedenfalls das Grab allein ausgehoben.“
Einhundert Kilometer südlich von Heyrothsberge erlebte die heute 89-jährige Leipzigerin Christa Stutte das Kriegsende im Westen der Stadt Leipzig, in Lindenau. Wenn sie an die Tage im April und Mai 1945 zurückdenkt, erinnert sich die Frau an den Jungen, der in Uniform auf der kleinen Brücke über dem Flüsschen Luppe stand. „Er war bewaffnet und sollte wohl die aus Richtung Plagwitz erwarteten Amerikaner aufhalten. Die Erwachsenen, auch mein Vater, redeten auf ihn ein, es doch lieber zu lassen und nach Hause zu gehen. Der Krieg sei ohnehin verloren. Er zog sich dann tatsächlich in der nahe gelegenen Tischlerei meines Vaters Zivilsachen an und ging nach Hause. Für ihn war der Krieg zu Ende.“

Die Leipzigerin Christa Stutte (Jahrgang 1936) heute und als Fünfjährige.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Die damals Neunjährige sieht aber auch den toten amerikanischen Soldaten am Lindenauer Markt vor sich, der neben einem zerstörten Fahrzeug lag. „Das sprach sich schnell herum und die Leute gingen neugierig hin, um sich das anzusehen. Der Anblick war schrecklich.“ Stutte und ihre beiden jüngeren Schwestern wurden in den Nachkriegstagen von einem 15-jährigen Kindermädchen betreut. „Sie ging mit uns immer genau da spazieren, wo amerikanische Soldaten standen. Wir sollten zu ihr dann ‚Mama’ sagen. Das führte dazu, dass sie besonders viel Schokolade und Süßigkeiten bekam, weil die Soldaten wohl Mitleid mit dieser jungen Mutter hatten. Wir bekamen unseren Anteil ab und machten das Spiel gern mit …“
Dieter Hallervorden (89)
Schauspieler
Der deutsche Schauspieler und Entertainer Dieter Hallervorden kann sich persönlich nicht an den genauen Tag im April 1945 erinnern, als Soldaten der US-Army in Quedlinburg einmarschierten. Es war der 19. April. Hallervorden, geboren 1935, verbrachte wegen der Luftangriffe auf seine Geburtsstadt Dessau einen Teil seiner Kindheit in der Stadt am Harzrand.

Der Schauspieler Dieter Hallervorden (Jahrgang 1935) heute und 1941 bei seiner Einschulung.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Er erzählt, dass er als neunjähriger Pimpf „nach jahrelanger, erfolgreicher Gehirnwäsche durch die Hitlerjugend und Lehrerschaft“ die einrückenden Panzer der US-Amerikaner so begrüßt hätte, „wie man es mir beigebracht hatte“. Hallervorden sagt: „Ich streifte mir einen im Keller gefundenen Armeemantel mit Hakenkreuzbinde über, der mir bis zu den Knöcheln reichte. So ausstaffiert, stellte ich mich vor unserer Unterkunft auf die Straße, riss den rechten Arm zum Hitlergruß empor und schrie den amerikanischen Soldaten auf ihren Panzern zu: ‚Sieg Heil!‘.“
Noch heute schüttelt es ihn, wenn er an diese Situation zurückdenkt. „Ein gespenstisch verkleideter Dreikäsehoch will einer Weltmacht zeigen, was eine Harke ist. Man hätte sich nicht wundern müssen, wenn ein GI, der womöglich gerade durch deutsche Heckenschützen seinen besten Kameraden verloren hatte, entnervt die Kontrolle verloren und mein Lebenslicht zum Erlöschen gebracht hätte. Es war mein Vater, der mich von der Straße holte und in Sicherheit brachte. Überlebt!“
In seinem Garten in Fichtenwalde vor den Toren Berlins blickt Klaus Abraham in die Bäume, als er an den Tag denkt, an dem er seinen ersten Russen sah. „Meine Mutter, mein ein Jahr älterer Bruder und ich hatten uns in einem Familienbunker in der Nähe unserer Wohnung in Berlin-Kreuzberg verkrochen“, erzählt der 88-Jährige. „Dann öffneten sie von außen den Bunker, zwei Offiziere der Roten Armee und mehrere Deutsche. Sie forderten die Leute, zumeist Frauen mit Kindern oder ältere Menschen, auf, ihre Wertsachen registrieren zu lassen und abzugeben. Meine Mutter sagte, wir hätten nichts. Was stimmte, denn wir hatten zuvor einiges in der Hasenheide vergraben.“

Der frühere Feuerwehr-Taucher Klaus Abraham (Jahrgang 1937) heute und als Dreijähriger.
Quelle: Montage: Donati/RND, Fotos: Thoralf Cleven, Privat
Der damals Achtjährige registrierte erstaunt, „wie fertig“ die ersten Soldaten gewesen seien, als sie durch die Straßen Richtung Berlin-Mitte zogen. „Die waren eigentlich stehend k.o.“, so Abraham. „Die taten niemandem etwas, die zweite Welle der Armisten war da anders. Ich habe es nicht gesehen, aber es hielt Gewalt Einzug. Jeder spürte das, Frauen waren auf der Hut. Als uns einmal betrunkene Russen in die Wohnung folgten, konnte meine Mutter mit uns durch den Dienstbotenaufgang flüchten. Wir Kinder empfanden eine aus Angst und Abenteuerlust gespeiste Atmosphäre.“ Alle, so der pensionierte Feuerwehrmann, atmeten auf, als die Amerikaner Kreuzberg übernahmen. „Da begann die Freiheit.“
Täve Schur sagt, die Zeit im und nach dem Krieg hätte ihn hart gegenüber sich selbst gemacht. Diese Härte, glaubt er, hätte auch dazu beigetragen, Amateurweltmeister (1958 und 1959) und mehrmaliger Friedensfahrtsieger zu werden sowie Olympiamedaillen in Melbourne (1956) und Rom (1960) zu erkämpfen. „Ich wurde ein anderer, nicht zuletzt durch die Berichte darüber, wie Deutsche im Krieg überall gewütet hatten. Aus dem kleinen Faschisten wurde ein Antifaschist.“
Den Sportsmann plagen heute noch Gewissensbisse wegen seiner unerbittlich ausgetragenen Asphaltkämpfe mit dem knapp ein Jahr älteren, sowjetischen Rennfahrer Pawel Wostrjakow. „Erst später erfuhr ich, dass Wostrjakow seine gesamte Familie im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, dass er eine Waise war. Mich hat das tief berührt. Mit diesem Wissen im Kopf hätte ich nie versucht, den Mann im Rennen abzuhängen.“
Klaus Abraham (88)
früherer Feuerwehrmann in Berlin
Susi Spiegel richtete sich in der DDR ein und bekam mit ihrem 2009 verstorbenen Mann drei Kinder. Sie blieb skeptisch gegenüber dem Staat. „In der DDR wurden alte Nazi-Phrasen durch neue kommunistische Parolen ersetzt. Ich habe eine Mitgliedschaft in der SED abgelehnt und mich bis heute immer aus allem Politischen herausgehalten. Und eine Waffe, die nehme ich mein Lebtag nicht in die Hand.“
Klaus Abraham machte Karriere in der Berliner Feuerwehr und sammelte bei vielen Rettungseinsätzen im Grenzgebiet schmerzliche Erfahrungen mit der Teilung der Stadt seit dem Mauerbau 1961. Er durfte jedoch auch das Zusammenwachsen der Retter in Berlin mitgestalten. Abraham ging 1998 in Pension. Er sagt: „Der Krieg in der Ukraine ließ in mir wieder so viele Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hochkommen. Die Bomben, die Trümmer, die Angst in den Augen der Menschen - manchmal ist mir beim Betrachten der TV-Bilder so, als erlebe ich das noch einmal.“
Dieter Hallervorden macht nach dem Krieg sein Abitur in Dessau und studiert später Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1958 verlässt er die DDR und beginnt 1960 seine Karriere als Chefkabarettist der „Wühlmäuse“ in Westberlin und als Schauspieler in einer Minirolle in „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“. Heute gehört er zu den erfolgreichsten deutschen Schauspielern vor der Film- und Fernsehkamera sowie auf Theaterbühnen.
Zurückblickend sind die Kriegserlebnisse als Kind sowie die Indoktrinierung, zunächst durch die Nazis und nach 1945 durch die Kommunisten im Osten Deutschlands, prägend für Hallervorden, wie er angesichts jüngster Debatten über einige seiner Auftritte betont. „Die Erfahrungen von Hirnwäsche und Bevormundungen haben mich zu einem politisch engagierten Menschen mit dem Hang zur eigenen Meinungsbildung gemacht.“
Beobachter halten Hallervorden, der bis zuletzt Wahlkampf für die FDP und die CDU machte, vor, er hätte womöglich seinen politischen Kompass verloren. Dabei ging es um einen umstrittenen Auftritt in der ARD und eine Videobotschaft auf einer größtenteils von sogenannten Querdenkern und Rechtsextremisten abgehaltenen Veranstaltung. Hallervorden bestreitet jede Nähe zu rechtsextremem Gedankengut. Er habe über Frieden gesprochen, was angesichts seiner Kriegserfahrungen wenig verwunderlich sei. „Von dieser Freiheit“, so der Schauspieler, „mache ich ohne Rücksicht auf persönliche oder berufliche Nachteile seit Jahren reichlich Gebrauch.“
Albrecht Weinberg (100), Holocaust-Überlebender aus Leer (Ostfriesland)
Albrecht Weinberg sitzt in seinem Sessel in Leer und krempelt den linken Hemdärmel hoch, als ich ihn nach seinen Gefühlen frage, wenn er 80 Jahre zurückblickt. Auf seinem Unterarm wird deutlich die eintätowierte Auschwitz-Nummer sichtbar. 116927. „Hass“, antwortet er. „Schon beim Gesicht waschen morgens, wenn ich meine Hände ins Wasser tauche. 116927. Überlegen Sie mal, wie viele Lager die Nazis betrieben und wie viele Menschen darin umgekommen sind! Wir waren normale Deutsche und von einem Tag auf den anderen für die meisten unserer Nachbarn Aussätzige. Das kann ich nicht vergessen, tut mir leid.“
Dennoch ist Weinberg zurückgekommen – obwohl sich seine zwei Jahre ältere Schwester Friedel und er bei ihrer Ausreise in die USA im Februar 1947 geschworen hatten, nie wieder ihren Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Obwohl sie Erfolg in New York ernteten – Albrecht betrieb mit einem weiteren Überlebenden eine gut laufende Fleischerei auf dem Broadway. Ein schwerer Schlaganfall Friedels, die sich dem lebenslangen Schutz ihres kleinen Bruders verpflichtet fühlte, und Hilfsangebote von Freunden stimmten ihn 2012 um. Nach ihrem Tod im selben Jahr begann Albrecht Weinberg seine Familiengeschichte zu erzählen.
Seitdem ist eine Straße in Leer nach den Geschwistern benannt und das Gymnasium trägt den Namen „Albrecht Weinberg“. Mindestens einmal pro Woche redet er in der ehemaligen jüdischen Schule in Leer mit Schulkindern aus dem Umkreis. Weinberg sagt: „Ich werde überall sein, wo ich den Leuten erklären kann, was uns Juden hier in der Nazizeit passiert ist. Und Kinder sind die Politiker von morgen.“ Sie hätten übrigens gut verstanden, warum er im Januar nach der gemeinsamen Abstimmung der Union im Bundestag mit der AfD zur Migrationspolitik sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben hätte.
Der Hundertjährige ist heute der einzige Jude im ostfriesischen Leer, wo es einstmals eine recht große Synagoge gab. Die Religion habe er jedoch vor mehr als 80 Jahren verloren, sagt er. „Ich glaube nicht, dass es da oben irgendwo einen katholischen, evangelischen oder jüdischen Gott gibt. Auschwitz spricht dagegen.“
rnd