Hightech gegen Russlands Schattenflotte –die Nato übt in der Ostsee den Ernstfall


Ein Schiff treibt ohne klaren Kurs vor der Küste Finnlands. Unaufhörlich dreht sich die Radarantenne. Direkt unter ihm, in Dutzenden Metern Tiefe, verläuft eine Gaspipeline. Ein Anker, gezielt abgeworfen und über den Meeresgrund geschleift, könnte sie beschädigen – und Europas Energieversorgung beeinträchtigen.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Doch das Schiff steht unter genauer Beobachtung.
Unter seinem Rumpf schwebt eine leuchtend gelbe Gleiterdrohne in Torpedoform. Sie ist das Ohr, das jedes Geräusch erfasst und Daten an ein Lagezentrum sendet. Auf der Wasseroberfläche nähert sich das Auge, ein Roboterboot mit einer per Kabel angebundenen Flugdrohne an Bord.
Sie identifiziert verdächtige Schiffe aus der Luft. Macht der Kapitän Anstalten, den Anker zu setzen, wird er per Funk gewarnt. Im Ernstfall wird eine Fregatte alarmiert und zum Tatort geschickt.
Ein solches Szenario probt die Nato dieser Tage in der Ostsee. Das Schiff gehört nicht zur russischen Schattenflotte, sondern zum Verteidigungsbündnis: Die «Alliance» ist ein Forschungsschiff, an dessen Bord Militärs und Wissenschafter neue Technologie, unbemannte Systeme und KI-Anwendungen testen. Alles mit dem Ziel, Europas verwundbare Unterwasser-Infrastruktur besser zu schützen.
Es geht dabei sowohl um Technik als auch um Tempo. Die Übung namens «Task Force X Baltic» steht auch für einen Strategiewechsel bei der Beschaffung von Ausrüstung. Erstmals setzt die Nato darauf, auf dem Markt verfügbare Technik direkt und unter realen Bedingungen zu testen und bei Erfolg schnellstmöglich in die Armeen zu bringen.
Beschaffen, was auf dem Markt ist – und funktioniertFrüher lief die Beschaffung nach einem starren Schema. Die Armeen meldeten ihren Bedarf und warteten dann fünf bis zehn Jahre auf die Lieferung. «Heute ist es genau umgekehrt», sagt David Portal, der beim zentralen Kommando aller Seestreitkräfte der Nato (Marcom) für Übungen und Training verantwortlich ist.
Man schaue, was auf dem Markt verfügbar sei, und teste dies in einer operativen Umgebung, um herauszufinden, für welche militärischen Zwecke das Material geeignet sei.
Anders formuliert: Man schaut, was es gibt, und findet dann heraus, wozu es taugt. Das geht schneller, als zuerst Anforderungen zu formulieren und dann jahrelang auf massgeschneiderte Entwicklungen zu warten. Beim Nato-Gipfel in Den Haag wurde dieser Ansatz – der «Rapid Adoption Action Plan» – erstmals offiziell verankert und als Leitlinie für künftige Innovation und Beschaffung beschlossen.
Die Übung in der Ostsee ist Teil einer Antwort auf eine Bedrohung, die längst Realität ist. 99 Prozent des globalen Datenverkehrs laufen über Unterwasserkabel. Ohne sie gäbe es keinen Finanzhandel, keine Kommunikation. Hinzu kommen Stromkabel und Gaspipelines. Sie alle sind verwundbar. Und Russland hat sie im Visier.
Ex-Präsident Dmitri Medwedew schrieb vor zwei Jahren auf Telegram, man habe «keine Einschränkungen mehr, auch keine moralischen, die uns davon abhalten, die auf dem Meeresboden verlegten Kabelverbindungen unserer Feinde zu zerstören». Moskau betreibt seit den 1960er Jahren eine intensive Tiefseeforschung und hat Fähigkeiten aufgebaut, die die Nato in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt hat.
Schon heute ist die Ostsee Schauplatz mutmasslicher Sabotage. Im Oktober 2023 wurden die Gaspipeline Balticconnector sowie mehrere Datenkabel zwischen Finnland und Estland beschädigt, im November 2024 wurden die Internetverbindung zwischen Gotland und Litauen sowie das Telekommunikationskabel C-Lion1 zwischen Finnland und Deutschland in Mitleidenschaft gezogen. Im Dezember desselben Jahres schliesslich kamen die Stromverbindung Estlink 2 zwischen Estland und Finnland und erneut mehrere Datenkabel zu Schaden.
Oft ist es schwierig, die Ursache der Beschädigung festzustellen. Mehrere tausend Handelsschiffe verkehren täglich in der Ostsee. Fischerboote und Anker verursachen ungewollt einen Grossteil der Schäden an der kritischen Unterwasser-Infrastruktur – und Aggressoren versuchen, sich als harmlose Seeleute zu tarnen. Sabotage war bislang einfach mit günstigen Mitteln zu bewerkstelligen und blieb meist ohne Konsequenzen.
Um das zu ändern, setzt die Nato auf ein Zusammenspiel klassischer und unbemannter Systeme. Sie sollen die Ostsee zu einem gläsernen Meer machen. Ein Nato-Beamter verspricht sich davon eine abschreckende Wirkung. Das Kalkül: Wenn potenzielle Angreifer wissen, dass sie beobachtet werden, könnte sie das von einem Sabotageakt abhalten.
Denn solche Angriffe zielen nicht nur auf finanziellen Schaden ab – sie entfalten ihre Wirkung auch durch die Ungewissheit über die Urheber und die Verunsicherung, die das in der Bevölkerung auslöst.
Sabotage als Auslöser für Beistand der Nato-PartnerWer nicht ertappt wird, kann auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei kann die Sabotage westlicher Unterwasser-Infrastruktur ernste sicherheitspolitische Konsequenzen haben: «Selbst im Fall einer hybriden Operation könnten Konsultationen nach Artikel 5 den Bündnisfall auslösen – vorausgesetzt, es gelingt, den Vorfall eindeutig zuzuordnen», sagt der Nato-Beamte.
Welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen, lässt die Nato offen, um potenzielle Gegner im Unklaren zu lassen. Eero Kytömaa, ein Berater für nationale Sicherheit beim finnischen Innenministerium, nennt die spürbare Verschlechterung der normalen Lebensumstände in einem Nato-Staat als möglichen Auslöser für Debatten zur Beistandspflicht.
Die Nato-Staaten haben indes Mühe, mit der rasanten technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Der Einsatz neuartiger Systeme wie Glasfaserdrohnen im Ukraine-Krieg zeigt: Wer schneller lernt, ist militärisch im Vorteil.
Die Drohnen und die Systeme, die sich während der laufenden Tests in der Ostsee bewähren, empfiehlt die Nato ihren Mitgliedstaaten. In einem ersten Schritt können sie die acht Ostsee-Anrainer sowie Belgien, die Niederlande, Frankreich und Norwegen bestellen. Geliefert werden soll innerhalb eines Jahres.
Dann soll das Konzept auf verschiedene Umgebungen, etwa im Atlantik, im Schwarzen Meer oder im Mittelmeer, übertragen und auf weitere Nato-Mitglieder ausgeweitet werden. In Gesprächen mit Nato-Beamten wird klar, wie ernst man die Bedrohung seitens Russlands nimmt.
Die Ostsee-Übung soll für den Ernstfall rüsten, sowohl technologisch als auch strukturell. Bei weitem nicht jede Sabotage an kritischer Unterwasser-Infrastruktur wird sich verhindern lassen. Aber das ist auch nicht das Ziel, sondern: die Täter künftig daran zu hindern, unbemerkt zu bleiben.
nzz.ch