Lieferdienste | Längster Ausstand bei Lieferando
Laut der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) legten am Wochenende mehr als 100 Beschäftigte des Lieferdienstes Lieferando in Hamburg ihre Arbeit nieder. Die NGG hatte zu einem 36-stündigen Streik aufgerufen – dem bisher längsten in der Firmengeschichte. »Ich bin sehr zufrieden mit der Beteiligung«, sagte NGG-Gewerkschafter Mark Baumeister im Gespräch mit »nd«. In Hamburg beschäftigt Lieferando rund 500 Menschen.
Die NGG fordert seit zwei Jahren einen Tarifvertrag für die bundesweit etwa 6000 Beschäftigten des Unternehmens. Doch der Mutterkonzern Just Eat Takeaway blockiert dies, kritisiert Baumeister. »Nach der hohen Inflation der letzten Jahre ist ein Tarifvertrag überfällig«, begründet er den Streik.
Eine Tarifvereinbarung sei umso dringlicher, weil ab August sogenannte »Order-Boni« wegfallen sollen, die den Kraftfahrer*innen mehrere Hundert Euro im Monat einbrachten. Das betrifft laut Gewerkschaft etwas weniger als die Hälfte der Kuriere. Aus einem Bundestagsgutachten geht hervor, dass diese Boni zu riskantem Verhalten im Straßenverkehr verleiten. Die NGG fordert stattdessen eine rechtskonforme tarifliche Regelung.
Ausgründungen und prekäre Jobs
Auch wirft die NGG Lieferando vor, eine »Schattenflotte« aufzubauen. Mitarbeiter*innen würden entlassen und über Subunternehmen zu prekären Bedingungen wieder eingestellt. Nach der Schließung des Logistikbetriebs in Österreich habe Lieferando auch in Berlin rund 500 Fahrer auf die Straße gesetzt. Anschließend sollen Firmen wie Fleetlery sie zu schlechteren Konditionen wieder angeworben haben.
Das Subunternehmen beschreibt sich als »Partner für Zeitarbeit und Arbeitnehmerüberlassung im Kurierdienst«. Aus Gewerkschaftskreisen heißt es, dass solche Dienstleister Löhne teils bar auszahlen, gegen den Mindestlohn verstoßen und Arbeitszeiten nicht ankündigen. Eine Stellungnahme von Fleetlery blieb bis zum Redaktionsschluss aus.
Die NGG vermutet, dass Lieferando mit seinem Vorgehen der EU-Plattformrichtlinie ausweichen will, die bis Dezember 2026 in nationales Recht umgesetzt werden soll. Die Richtlinie sieht vor, dass Plattformunternehmen für Nachunternehmer haften und Beschäftigte automatisch als fest angestellt gelten, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. »Um das zu umgehen, setzt Lieferando auf Werkverträge und Leiharbeit«, kritisiert Baumeister.
Unternehmen weist Vorwürfe zurück
Ein Sprecher von Lieferando wies die Kritik auf »nd«-Anfrage zurück. Der Vorwurf, man setze Mitarbeiter*innen auf die Straße und stelle sie über Subunternehmen schlechter wieder ein, sei »grob irreführend«. Man gebe keine Kontaktdaten weiter und habe in Berlin »nicht in nennenswertem Umfang« Fahrer entlassen.
Zum Wegfall der Boni erklärte das Unternehmen, dass die meisten Fahrer*innen per Fahrrad unterwegs seien und nicht betroffen wären. Sie verdienten in Deutschland durchschnittlich über 14 Euro pro Stunde und in jedem Fall über dem Mindestlohn. Zudem habe man den Betriebsräten eine Betriebsvereinbarung für ein neues Zuschlagsmodell vorgelegt.
Keine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft?
NGG-Gewerkschafter Baumann widerspricht: Es gehe beim Stellenabbau nicht nur um Kündigungen, sondern auch um auslaufende befristete Verträge. Zudem sei die Behauptung, es gebe eine unterschriftsreife Betriebsvereinbarung zu den Boni, falsch. Für solche Verhandlungen soll die Gewerkschaft zuständig sein, »nicht die Betriebsräte«, betont er. Laut NGG lehnt Lieferando eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft aber ab.
Zur Forderung nach einem Tarifvertrag erklärte das Unternehmen auf Anfrage, dass damit die Wettbewerbsunterschiede verschärft würden. »Lieferando ist aktuell die einzige Essensbestellplattform mit Direkanstellungsmodell im Markt.« Mit einem Tarifvertrag würden noch weniger Anbieter direkt anstellen, zulasten der Rechte und Bezüge von Fahrer*innen branchenweit, heißt es in der Stellungnahme.
Die NGG schlägt darum einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag vor, um Standards für die gesamte Branche zu setzen. Man habe sich dazu auch schon mit der Politik beraten, die das Anliegen unterstütze. Das Bundesarbeitsministerium kann Tarifverträge per Verordnung für allgemeinverbindlich erklären, damit sie für die gesamte Branche gelten.
Stabile wirtschaftliche Lage und Übernahme
Just Eat Takeaway steigerte 2024 den bereinigten Vorsteuergewinn (EBITDA) in Nordeuropa um fünf Millionen Euro. Die Region umfasst Länder wie Deutschland, Polen und die Niederlande, wobei Deutschland der größte Markt ist. Die Nutzerzahlen blieben mit 30 Millionen stabil.
Trotz Profitabilität ist der finanzielle Spielraum des Unternehmens allerdings begrenzt. Gleichzeitig steht Just Eat Takeaway vor einer Übernahme durch den südafrikanischen Delivery-Hero-Großaktionär Prosus. Der Deal im Wert von 4,1 Milliarden Euro soll bis Jahresende abgeschlossen sein. Kritiker befürchten weitere Umstrukturierungen zulasten der Beschäftigten.
Die Streikwelle der NGG geht unterdessen weiter. »Hamburg ist nur der Anfang. In den großen Städten macht Lieferando den meisten Gewinn. Wir machen sie zu unseren Streik-Städten«, kündigt Gewerkschaftssekretär Vincent Orth an.
nd-aktuell