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Chemikalienverordnung | Chemieindustrie: Mensch und Umwelt in Gefahr

Chemikalienverordnung | Chemieindustrie: Mensch und Umwelt in Gefahr
Durch die neuen Chemie-Gesetze der EU könnten Gefahrenhinweise zu krebserregenden Stoffen in Kosmetikprodukten – wie Hautcremes – künftig schwerer erkennbar sein.

Die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament reagierte ungewöhnlich scharf auf das angekündigte Paket für die Chemieindustrie, das die Kommission am Dienstag vorstellte. In einer Mitteilung sprach sie von einem »Geschenk an die Unternehmensinteressen auf Kosten der öffentlichen Gesundheit«. Der französische Abgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Christophe Clergeau warf der Kommission vor, sie arbeite für die Industrie, statt nachhaltige Produkte zu fördern. Damit breche sie ihre klimapolitischen Versprechen. Jessica Roswell, EU-Kommissarin für Umwelt, Wasserresilienz und Kreislaufwirtschaft, verteidigte die Strategie. Sie räumte ein, dass saubere Lösungen wichtig seien, betonte aber: »Alle sehen, wie sehr die chemische Industrie unter Druck steht.«

Seit dem Energiepreisschock befindet sich die Branche in einer strukturellen Krise. Eine Studie der Boston Consulting Group zeigt, dass die Kapazitätsauslastung auf 74 Prozent gesunken ist – rund 10 Prozent unter dem historischen Durchschnitt. In Deutschland kündigte zuletzt der Chemiekonzern Dow Chemicals die Schließung dreier Standorte an. Branchenriese Covestro plant ebenfalls, Produktionsanlagen in Rotterdam stillzulegen. Zu vergleichsweise hohen Energiepreisen kommen Überkapazitäten in China und im Nahen Osten hinzu, Unsicherheiten durch mögliche US-Zölle, veraltete Anlagen und die Umstellung auf klimaneutrale Produktion.

Die EU-Kommission schätzt, dass die Branche Investitionen von etwa 14 Milliarden Euro benötigt. Öffentlich gestützte Kredite sollen dabei helfen, die ökologische Transformation voranzutreiben. Eine neue »Allianz für Kritische Chemikalien« erhält die Aufgabe, Schlüsselprodukte und -anlagen zu identifizieren, die für die strategische Autonomie Europas wichtig sein sollen – etwa in der Verteidigung oder bei chemischen Grundstoffen. Wer Teil der Allianz sein wird und welche Standorte davon profitieren, ist noch offen. »Wir stehen erst am Anfang des Prozesses«, erklärte Stéphane Séjourné, Exekutiv-Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für die Industriestrategie.

»Die Menschen, die Beschäftigten und die Umwelt werden von diesen falschen Lösungen nicht profitieren.«

Vicky Cann Corporate Europe Observatory

Neben der Förderung chemischer Recyclingverfahren plant die Kommission, die Beihilfeleitlinien für das Emissionshandelssystem (ETS) zu überarbeiten. Ziel ist es, Unternehmen bei indirekten Energiekosten zu entlasten. Derzeit müssen sie für ihre CO2-Emissionen Verschmutzungsrechte kaufen, deren Kosten die Stromerzeuger oft an energieintensive Industrien weitergeben. Künftig sollen Staaten die Chemiebranche dabei unterstützen können.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) begrüßte die Ankündigungen und drängt auf schnelle Umsetzung. VCI-Präsident Markus Steilemann sagte: »Jahrelang wurden dem Sektor regulatorische Knüppel zwischen die Beine geworfen.« Nun würden erste Probleme aus dem Weg geräumt.

Im Rahmen des sogenannten Bürokratieabbaus sollen Vorgaben bei Produktkennzeichnungen und Verpackungen, die dem Verbraucherschutz dienen, gelockert werden. Auch werden Zulassungsverfahren beschleunigt und Berichtspflichten reduziert.

Besonders umstritten sind die Pläne zu sogenannten Ewigkeitschemikalien (PFAS), die extrem langlebig und umwelt- sowie gesundheitsschädlich sind. Einige dieser Stoffe seien alternativlos und strategisch wichtig, erklärte Exekutiv-Vizepräsident der Kommission Séjourné – etwa für die Verteidigung, die Textilindustrie oder die Kosmetikbranche. Zudem ist vorgesehen, dass Fristen verlängert werden, bis zu denen Kosmetikhersteller schädliche Inhaltsstoffe ausweisen müssen. Und nachweislich krebserregende und fortpflanzungsgefährdende Stoffe (CMR) sollen »unter strengen Auflagen« weiterhin in Kosmetika und Düngemitteln verwendet werden dürfen.

»Wir wollen, dass Unternehmen Alternativen entwickeln«, entgegnete Kommissarin Roswell. Doch die seien noch nicht verfügbar. Die Vereinfachungen brächten keine Gesundheitsgefahren mit sich, versprach sie. Das weist der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC zurück und warnt, dass das Gesundheitsrisiko für Industrie- und Landarbeiter*innen sowie Friseur*innen erheblich erhöht wird. Und Vicky Cann von der Anti-Lobbying-Organiation Corporate Europe Observatory kritisiert, dass die Kommission Kernforderungen der Industrie übernommen habe. »Die Menschen, die Beschäftigten und die Umwelt werden von diesen falschen Lösungen nicht profitieren«, unterstreicht sie.

»Mit ihrem Vorstoß gefährdet die Kommission Mensch und Umwelt«, kritisierte auch die Grünen-Abgeordneten Jutta Paulus das Paket scharf. Die Umweltorganisation BUND fordert von der Kommission, das Paket zurückzunehmen. »Mit diesen Gesetzen öffnet die EU dem Abbau mühsam erreichter Verbraucherschutzstandards Tür und Tor«, erklärt der BUND.

Unterstützung erhielt die Kommission am Dienstag dagegen von der konservativen Fraktion EPP. Rechten und extrem rechten Abgeordneten geht das Paket nicht weit genug. Sie fordern eine vollständige Abschaffung der Umwelt- und Klimavorgaben.

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