Wirecard: Das Märchen von den erfundenen Milliarden

Michael Jaffe spricht schon einige Stunden. Dann kommt der Wirecard-Insolvenzverwalter im Strafprozess gegen Ex-Chef Markus Braun und zwei Mitangeklagte zum Kern des Skandals. „98 Prozent des Geschäfts hat es nie gegeben“, erklärt der 62-jährige Insolvenzexperte.
Speziell angeblich gewinnhaltige Anteile in Asien seien nur erfunden gewesen und hätten nie wirklich existiert. Das deckt sich mit bisherigen Erkenntnissen des Landgerichts München, wo seit Ende 2022 gegen ein Managertrio wegen Betrug, Untreue und Bilanzmanipulation verhandelt wird. Auch über angebliche Wirecard-Milliarden auf Treuhandkonten weiß Jaffe entscheidendes. „Es wurden keine 1,9 Milliarden Euro gestohlen, das Geld war nie da“, betont der Zeuge.

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Was Jaffe aussagt, hat Gewicht. Denn erst als Gutachter, dann als vorläufiger und schließlich als formaler Insolvenzverwalter beschäftigt sich der Rechtsanwalt bereits seit der Wirecard-Pleite am 25. Juni 2020 mit der Aufarbeitung des für viele Experten größten Wirtschaftsskandals in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und das an zentraler Stelle.
Seit fünf Jahren fahndet er nach Vermögenswerten, um sie für Gläubiger aller Art zu sichern. Rund 53.000 Ansprüche im Umfang von gut acht Milliarden Euro seien angemeldet. Hätte es das vermeintlich hochlukrative Drittpartnergeschäft (TPA) in Asien und die damit verbundenen Treuhand-Milliarden gegeben, hätte der international nachforschende Jaffe sie gerne gefunden.
Der 62-jährige ist sich jedoch inzwischen sicher, dass weder TPA-Geschäfte noch Treuhand-Milliarden je existiert haben, weil er und sein Team fünf Jahre lang jeden Stein im verwinkelten Wirecard-Konzern umgedreht haben. Es wurden Mitarbeiter befragt, die qua Funktion mit den TPA-Deals befasst gewesen wären – ohne Ergebnis. „Niemand hat dazu etwas gewusst“, so der Zeuge. Auch in Unmengen gesicherter Firmendaten fand sich keine einzige Spur. Angesichts des angeblich über TPA-Geschäfte bewegten Geschäftsvolumen von 51 Milliarden Euro hält Jaffe das für schlechterdings unmöglich.
Nach der Pleite habe sich zudem kein einziger Kunde aus Asien gemeldet. Bei einer britischen Wirecard-Tochter mit echtem Geschäft von bescheidenen 60 Millionen Euro sei das ganz anders gewesen, erinnert sich Jaffe. „Uns sind die Telefone in die Luft geflogen“, schildert der die Lage, nachdem Händler von Wirecard über Nacht getrennt worden seien.
Der Wirecard-Insolvenzverwalter will mit seiner Klage Geld für die Gläubiger des Ex-Dax-Konzerns sichern. Das Landgericht München hat nun ein Urteil gefällt.
Quelle: dpa
Überflutet worden sei man mit Anrufen, E-Mails und Forderungen. Beim vielfach größeren TPA-Geschäft in Asien herrscht dagegen bis heute Schweigen im Walde. Das lässt für Jaffe und erkennbar auch für Richter Markus Födisch nur einen Schluss zu. Das TPA-Geschäft war lediglich erfunden.
Der prominenteste Angeklagte Braun und der mit ihm auf der Anklagebank sitzende Ex-Chefbuchhalter Stephan von Erffa beharren dennoch nach wie vor, unschuldig zu sein. Sie argumentieren mit Schattengesellschaften, die die wahren Betrüger installiert hätten, um die fehlenden Milliarden zu veruntreuen. Diese Täter seien vor allem der mitangeklagte und geständige Kronzeuge Oliver Bellenhaus sowie der flüchtige Ex-Vorstand Jan Marsalek.
Aber auch diese Geschichte lässt Jaffe platzen. Fast 100 angebliche Schattenfirmen habe man unter die Lupe genommen. „Wir haben alle abgearbeitet“, versichert der Zeuge. Die Hälfte davon habe erkennbar keine Berührungspunkte mit Wirecard gehabt. Andere hätten das glaubhaft bestritten. In keinem Fall seien Aktivitäten zum Schaden des Zahlungsdienstleister aus Aschheim bei München feststellbar gewesen. „Wir halten es für ausgeschlossen, dass Geschäfte veruntreut wurden“, betont Jaffe.
Braun und Erffa verfolgen diese für ihre Verteidigung vernichtende Zeugenaussage ohne erkennbare Regung. Das bleibt bei Braun auch so, als der Insolvenzverwalter von einer auf ihn persönlich abgeschlossenen Managerpolice im Falle von Straftaten erzählt. Jaffe wird voraussichtlich noch zwei weitere Tage als Zeuge aussagen.
rnd