China: Eine Volkswirtschaft im Erschöpfungszustand

Seoul. Wenn selbst die uneingeschränkte Nummer eins ächzt, dann muss die Lage wohl überaus ernst sein. Im vergangenen Monat beschwerte sich Stella Li, die zweitwichtigste Managerin des Elektro-Autobauers BYD, über den extrem brutalen Preiskampf auf dem chinesischen Markt. „Es ist ein sehr extremer, harter Wettbewerb. Das aktuelle Niveau ist nicht nachhaltig“, räumte die Geschäftsfrau in einem Interview mit Bloomberg ein.
Ihre Aussagen sind vor allem deshalb erstaunlich, weil sich BYD in nur wenigen Jahren als einst völlig unbekannter Staatsbetrieb mittlerweile die Pole-Position im Bereich E-Mobilität gesichert hat.
Doch Fakt ist: Der Erfolg der chinesischen Industriepolitik offenbart immer deutlicher ihre Schattenseiten. „Wir haben eine Situation, in der kaum noch eine Firma Gewinn macht“, sagt etwa Jörg Wuttke. Seit letztem Jahr arbeitet der gebürtige Heidelberger bei der Beratungsfirma DGA Albright Stonebridge Group in Washington. Zuvor leitete er mehrfach die europäische Handelskammer in Peking, wo er seit den 1980ern lebte. Sein Urteil zählt nach wie vor: Wuttke gilt als wohl profundester deutschsprachiger Kenner der chinesischen Volkswirtschaft.
Am Mittwoch hat ausgerechnet das Pekinger Statistikamt seine Aussagen empirisch unterfüttert. So sind die Erzeugerpreise, die sich bereits seit September 2022 in einer anhaltenden Negativspirale befinden, im Juni mit 3,6 Prozent ganz besonders drastisch eingebrochen. Was insbesondere für Konsumenten erst einmal positiv klingen dürfte – niedrigere Preise von Produkten - ist insbesondere langfristig eine äußerst besorgniserregende Entwicklung, deutet sie doch auf eine schwächelnde, ja deflationäre Volkswirtschaft hin.
In einer Zeit, in der viele Staaten des Westens noch die Auswirkungen einer anhaltenden Inflation in den Knochen spüren, dürfte das Bewusstsein eher gering dafür sein, dass eine Deflation die noch viel gefährlichere ökonomische Entwicklung ist. Denn in einer solchen Phase gehen nicht nur Investitionen zurück, sondern steigt auch der reale Wert von Schulden immer weiter. Und vor allem bedeutet Deflation, dass Unternehmen de facto weniger verdienen.

„Nicht akzeptabel“: Deutschlands Außenminister hat den Laserangriff Chinas auf ein Bundeswehr-Flugzeug scharf verurteilt. Der Vorfall sei geeignet, die deutsch-chinesischen Beziehungen zu belasten.
Das Problem ist jedoch hausgemacht. Chinas Industriepolitik beruht darauf, dass Xi Jinpings Wirtschaftsplaner in Fünfjahresplänen vorgeben, welche strategischen Industrien im Sinne der nationalen Interessen ausgebaut werden sollen. Sämtliche Unternehmen folgen anschließend blind dem Lockruf der Zentralregierung, weil sie wissen, dass dort Gelder in Form von Subventionen warten.
Und da jede chinesische Lokalregierung eigene „Champions“ in den entsprechenden Branchen heranzüchten möchte, werden selbst unprofitable Betriebe mit exzessiven Mengen von Staatsgeldern künstlich am Leben gehalten.
Die negativen Folgen dieses staatlich gelenkten Wirtschaftsmodells werden auch im Westen immer offener kritisiert: riesige Überkapazitäten – die letztlich zu Dumpingpreisen auf den Weltmärkten abgeworfen werden. Rückblickend betrachtet sind sie auch der Auslöser für den US-chinesischen Handelskrieg, den Donald Trump während seiner ersten Präsidentschaft vom Zaun gerissen hat.
Vor dem EU-China-Gipfel, der für die zweite Julihälfte geplant ist, hat sich auch EU-Kommissarin Ursula von der Leyen in einer Grundsatzrede dem Problem angenommen. Darin war sie der Volksrepublik vor, „die Weltmärkte mit subventionierten Überkapazitäten zu überschwemmen – und zwar nicht nur, um die eigene Industrie anzukurbeln, sondern auch, um den internationalen Wettbewerb zu ersticken“.
Das für die Europäische Union eindrücklichste und lehrreichste Schock war wohl die Solarindustrie, in der deutsche Unternehmen einst Marktführer waren. Doch angesichts der chinesischen Konkurrenz, die ihre Panele zu radikal günstigeren Preisen anbieten konnten, versanken die einstigen Markthirsche aus der Bundesrepublik in nur wenigen Jahren in der Irrelevanz.
Der Erfolg der Chinesen war jedoch ein zweischneidiges Schwert: Zwar konnte sie ihre Konkurrenz aus dem Ausland in Windeseile dezimieren und eine Art Monopol erreichen, doch auf dem Weg dahin hat sie praktisch keine Gewinnmargen eingefahren hat. Ähnliches wiederholt sich auch beim Erfolg der chinesischen E-Autos: Nur wenige der Marken schreiben derzeit Profite.
„Der Startschuss zu einem Reinigungsprozess, der sicherlich schmerzhaft sein wird, hat gerade begonnen“, sagt China-Experte Wuttke. Als erster ausländischer Experte hat er prominent vor dem wachsenden Problem chinesischer Überkapazitäten gewarnt. Was Wuttke in seinem Grundsatzpapier mit der europäischen Handelskammer bereits 2016 skizziert hatte, ist dann auch genau so eingetreten: dass nämlich Chinas Betriebe in den Branchen Solar- und Windenergie, Batterien und Elektroautos massive Überkapazitäten generieren werden.
Die chinesische Zentralregierung hat das Problem lange Zeit schlicht geleugnet. Als der französische Präsident Emmanuel Macron im letzten Jahr mit Xi Jinping über Chinas Überkapazitäten sprechen wollte, entgegnete dieser stets, dass es „so etwas nicht gibt“.
Natürlich war dies nur ein Bluff. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Peking die Achillesferse der eigenen Volkswirtschaft nun offen eingesteht. In der aktuellen Ausgabe des Magazins Qiushi, dem führenden Politik-Organ der kommunistischen Partei, wurde angemahnt: „Das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage (…) zeigt sich vor allem in einer schwachen Binnennachfrage und Überkapazitäten in einigen Branchen, was die bestehenden Unternehmen gezwungen hat, auf einem begrenzten Markt zu konkurrieren, um zu überleben“.
Dieses Gefühl des Hamsterrads kennen die Chinesen bereits seit längerem. „Neijuan“, was sich am ehesten mit „Involution“ übersetzen lässt, ist zum viralen Schlagwort geworden: Es beschreibt das Gefühl, trotz harter Arbeit auf der Stelle zu treten, weil der soziale Aufstieg den meisten versperrt bleibt. Doch das Konzept „neijuan“ spüren auch die Unternehmen – wenn sie wie Weltmeister produzieren und exportieren, aber schlussendlich keine Profite machen.
Die Wirtschaftsplaner in Peking wüssten eigentlich, was zu tun ist: Sie müssten nicht nur die Konsumenten stärken, um die Nachfrage anzukurbeln, sondern auch den Markt konsolidieren. Das bedeutet im Klartext: Etliche unprofitable Unternehmen würden pleitegehen. Und das ist für die Parteiführung zurecht ein Schreckensgespenst, weil es eine Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität darstellt. Denn zumindest kurzfristig würde die Arbeitslosigkeit im Land deutlich steigen.
rnd