Gaza-Krieg | Zivilgesellschaft im Visier
Täglich schlagen im Gazastreifen israelische Raketen und Bomben ein. Mit Maschinengewehren bestückte Drohnen patrouillieren Tag und Nacht über den provisorischen Flüchtlingslagern. Sie schießen oft wie aus dem Nichts, berichten Augenzeugen, allein am Donnerstag starben 90 Menschen bei verschiedenen Angriffen. In den von Israel und den USA betriebenen Zentren zur Verteilung von Hilfsgütern kamen seit Mai nach Berichten der Vereinten Nationen über 500 Palästinenser durch Kugeln israelischer Soldaten ums Leben. Dennoch, der Angriff vom 30. Juni auf das »Al-Baqa«-Strandcafé hat eine Schockwelle durch Gaza-Stadt gejagt. Der nur wenige Meter vom Mittelmeer entfernte Familienbetrieb war vier Jahrzehnte lang ein Treffpunkt für Künstler, Journalisten und Liberale – und zuletzt ein Ort, an dem viele für ein paar Stunden dem täglichen Kriegstrauma entkommen wollten.
»Ein Rückzugsort meiner weltoffenen Freunde, wegen der guten Internetverbindung, aber auch wegen der politischen Einstellung der meisten Besucher«, sagt Mohammad Al-Mascharawi. Seine 23-jährige Schwester saß mit Freundinnen an einem Tisch auf der Terrasse, als eine Rakete direkt neben ihnen einschlug. 41 Besucher waren auf der Stelle tot, berichtet der Direktor des Al-Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, die meisten Opfer waren seinen Angaben zufolge Frauen und Kinder. Über 100 Verletzte werden auch Tage nach dem Angriff dort behandelt.
Mutmaßliches KriegsverbrechenHuman Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisationen werfen der israelischen Armee vor, eine 230 Kilogramm schwere MK-82 Bombe eingesetzt zu haben. Experten hatten den eingesetzten Waffentyp anhand des Bombenkraters und gefundener Metallsplitter identifiziert. Die israelische Armee ließ offen, auf wen sie mit dem Angriff zielte, gab aber an, die zivilen Opfer durch Luftüberwachung minimiert zu haben. »Folglich war der Armee bekannt, dass man ein voll besetztes Café mit diesem Bombentyp angriff«, sagte Gary Simpson von Human Rights Watch gegenüber »The Guardian«. »Dies ist eine willkürliche und illegale Attacke, eine Untersuchung des Tatbestandes eines Kriegsverbrechens ist dringend nötig.«
Mohammad Al-Mascharawi kommt wie viele Angehörige der Opfer immer wieder zu den Trümmern des »Al-Baqa«-Cafés, sucht nach persönlichen Gegenständen seiner Schwester. »Ich habe ihre Handtasche und auf dem Boden ihr Blut gefunden. Ich habe noch keine Antwort auf die Frage, warum sie sterben musste. Es macht doch absolut keinen Sinn, so einen Ort zu bombardieren.«
»Das Café galt inmitten des täglichen Wahnsinns als sicherer Ort für junge Frauen wie meine Schwester. Viele haben dort über ihre Kriegstraumata gesprochen.«
Mohammad Al-Mascharawi Bruder eines Opfers des Raketenangriffs auf das »Al-Baqa«-Café
Das im gesamten Gazastreifen bekannte Café war laut Augenzeugen wie immer mit Besuchern aus allen Gesellschaftsschichten gefüllt. Aus dem Norden vertriebene Familien, regelmäßig kommende ältere Ehepaare, Blogger und Journalisten kühlten sich bei über 30 Grad mit einem Sprung ins Wasser ab. Danach schickten sie Nachrichten oder Social-Media-Posts über das kostenlose Wi-Fi-Netz und genossen die Ruhe. »Das Café galt inmitten des täglichen Wahnsinns als sicherer Ort für junge Frauen wie meine Schwester«, sagt Al-Mascharawi. »Viele haben dort über ihre Kriegstraumata gesprochen.«
Ein regelmäßiger Besucher beschreibt dem »nd« die Momente nach dem Einschlag: »Überall dort, wo Sekunden zuvor an Laptops gearbeitet oder Kaffee getrunken wurde, lagen Körperteile und Tote herum. Die Bilder waren so unerträglich wie die Stille danach.«
Journalisten, Künstler, Sportler unter den OpfernUnter den Opfern sind viele junge Journalisten und Künstlerinnen, die für ihre Generation ein Vorbild waren. Der Fotojournalist Ismail Abu Hatab hatte von der Terrasse immer wieder Bilder der israelischen Luftangriffe in Gaza-Stadt gemacht und diese in der Welt verbreitet. Seine Fotos vom Alltag in Gaza wurden in Ausstellungen in den USA und vielen anderen Ländern gezeigt. Auch die Familie Hatab ist am Mittwoch wieder am Strand, um zu trauern. Ismail hatten sie bereits am Tag nach seinem Tod beerdigt, über ihnen stets das Surren der israelischen Überwachungsdrohnen. Ismail Abu Hatab ist der 228. palästinensische Journalist, der von der israelischen Armee seit Oktober 2023 getötet wurde.
Auch Malak Musleh, die jüngste Boxerin des Gazastreifens, kam regelmäßig nach dem Training ins »Al-Baqa«. Nun ist auch sie tot. Ebenfalls unter den Opfern sind die bildende Künstlerin Amina Al-Salmi und der Menschenrechtsaktivist Omar Zaino. Die Journalistin Bayan Abu Sultan, deren Instragram-Profil besonders viele junge Palästinenserinnen folgen, überlebte schwer verletzt. Nicht wenige Besucher glauben, dass die Beliebtheit des Cafés unter Journalistinnen und Influencern der Grund für die Attacke war.
»Radikale wie Israels Finanzminister Smotrich wollen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens vertreiben«, sagt ein Freund von Ismail Abu Hatab aus Gaza am Telefon. »Für sie ist daher jeder Treffpunkt der Zivilgesellschaft eine Gefahr, da dieser ihre Erzählung widerlegt, dass alle Palästinenser menschliche Tiere und Hamas-Anhänger sind.«
Während die Angehörigen am Strand trauern, stehen am Freitag nun die Rauchwolken der Bombeneinschläge über den Zelten der Flüchtlinge weiter südlich. Die elf noch teilweise funktionstüchtigen Krankenhäuser in Gaza-Stadt können die vielen Verletzten kaum noch versorgen. Es mangelt an Medikamenten, medizinischen Geräten, Strom und sauberem Wasser.
Medizinische Einrichtungen unter BeschussDer Mangel an ausgebildeten Medizinern wird sich in Zukunft noch verstärken. Denn nun stehen auch wieder Ärzte im Visier der israelischen Armee. Am Mittwoch zerstörte eine israelische Luft-Boden-Rakete die Außenwand eines Apartments in Gaza-Stadt. Es war offenbar ein gezielter Treffer auf die Wohnung von Dr. Marwan Al-Sultan, den Direktor des indonesischen Krankenhauses. Er war gerade erst von einer Schicht im Krankenhaus nach Hause gekommen und starb zusammen mit seiner Frau und den Kindern.
Auch die Hungersnot dürfte sich nun weiter verschärfen. Ein Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) wurde Augenzeuge eines Angriffs auf zwei Fischer, die in den Gewässern vor Gaza im Einsatz waren. Sie wurden von Kugeln eines israelischen Marinebootes in Hals und Brust getroffen. Seit im Mai letzten Jahres neun Besatzungsmitglieder eines Trawlers starben, sind nur noch kleine Boote vor der Küste des Gazastreifens im Einsatz. Mit einem Quasiverbot des Fischfangs wird eine wichtige Nahrungsmittelquelle wegfallen.
nd-aktuell