Kein Urlaub im Osten wegen der AfD? Wie Medien eine Krise herbeischreiben wollen

Meiden Urlauber den Osten wegen der AfD? Vor allem der Tagesspiegel strickt diese Legende eifrig weiter. Diesmal trifft es massiv die Stadt Wittenberge. Nicht nur dort ist man entsetzt.
Es war noch nicht besonders warm am Pfingstwochenende, obwohl schon Anfang Juni war. In der Stadt Wittenberge in Brandenburg verlor eine Frau, die dort eine kleine Pension betreibt, die Nerven. So beschrieb sie es selbst in einem Brief, den sie an verschiedene deutsche Zeitungen schickte: „Wir starren auf das Handy und hoffen, dass doch noch Gäste den Weg zu uns finden.“Die Frau schrieb, dass ihre Pension neun Jahre lang gut gelaufen sei, aber in diesem Jahr blieben die Gäste weg. Die Frau hatte auch eine Vermutung, woran das liege: an den hohen Wahlergebnissen für die AfD im Osten Deutschlands. Viele Hoteliers hätten mit einem deutlichen Rückgang der Gästezahlen zu kämpfen, behauptete sie. In ihrer Stadt seien auch die Restaurants leer.
Der Tagesspiegel veröffentlichte den Brief in voller Länge, zunächst, ohne ihn durch eine Recherche einzuordnen. Und als Auftakt zu einer ganzen Serie von Artikeln, die um die Frage kreisten: Kann, sollte, darf man seine Ferien noch im Osten verbringen?
Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) griff den Brief der Pensionsbetreiberin auf. Durch einen Anruf in der Pension fand die FAZ-Redakteurin heraus, dass Gäste dort ihre Zimmer absagten, weil sich ihre Pläne geändert hätten. Oder ohne irgendeinen Grund anzugeben. Mit der AfD oder der politischen Stimmung im Osten hatte offenbar niemand seine Absage begründet.
Aber die Betreiberin glaube, dass es daran liegen müsse, dass es ein Unbehagen bei potenziellen Gästen gebe, hieß es im Text. Das Ganze war also nur eine Vermutung, ein ungutes Gefühl. Bei manchen Themen reicht das offenbar, es passt perfekt ins Bild, das in vielen Redaktionen vom Osten gezeichnet wird. Auch die FAZ verzichtete darauf, weiter zu recherchieren, nachzufragen, wie die Lage im Osten oder auch nur in Brandenburg wirklich sei, ob die Tourismusbranche tatsächlich unter einer Absagewelle leide. Das hätte allerdings auch die schöne Schlagzeile zerstört: „Wer will schon Urlaub unter Nazis machen?“
Die Berliner Zeitung hat in allen ostdeutschen Bundesländern nachgefragt – einen Rückgang der Urlauberzahlen meldet kein einziges. Immer noch nicht, muss man sagen. Schon nach der Bundestagswahl im Februar hatten Medien von der Ostsee-Zeitung über die Bild bis zum Spiegel berichtet, dass Urlauber nun den Osten meiden könnten. Ein Hotelbetreiber aus dem Landkreis Rostock hatte in einigen Interviews seine Sorge geäußert, dass Gäste wegbleiben würden, in den sozialen Medien schrieben vereinzelte Nutzer, dass sie den Osten boykottieren wollten, weil dort überall die AfD die stärkte Partei geworden war.Belege gab es nicht, nur Spekulationen. Das aber reichte für Berichte in ganz Deutschland über eine mögliche Storno-Welle im Osten. Schon damals teilten alle ostdeutschen Bundesländer auf Nachfrage der Berliner Zeitung mit, dass es diese Welle nicht gab. Es sei keine einzige Absage bekannt, die ein Gast mit dem AfD-Wahlergebnis begründet habe, ließ jedes der fünf Bundesländer wissen.
Trotzdem scheint etwas hängengeblieben zu sein aus den vielen Artikeln, die spekuliert statt berichtet hatten. Ein ungutes Gefühl, wie bei der Pensionsbetreiberin aus Wittenberge. Im Osten bleiben die Urlauber wegen der AfD fern, diese Geschichte klingt für einige offenbar zu gut, um sie einfach aufzugeben. Vor allem der Tagesspiegel geht ihr eifrig weiter nach. Als Belege müssen unter anderem die Meinungen der eigenen Leser herhalten. Aus einem Kommentarforum auf der eigenen Webseite. Anonyme, oft aggressive Stimmen.
Tagesspiegel-Leser über Osten: „Schade für die schöne Landschaft“Aus dieser Quelle erstellte die Zeitung einen weiteren Beitrag, Überschrift: „Kann unmöglich Urlaub machen, wo 40 Prozent Nazis wählen“. Dazu ein Foto von drei Glatzköpfen, aufgenommen von hinten. Ein anonymer Leser teilt mit, dass er in jedem Lokal im Osten mit anhören müsse, wie über Flüchtlinge gehetzt werde, wirklich „überall“, es sei „schade für die schöne Landschaft“. Ein anderer nennt den Osten „drive-thru-states“. Bundesländer, die man nur noch durchfahren kann, ohne anzuhalten. Vor allem aber sind die Leser der Meinung, dass es im Osten nun „kommt, wie es kommen musste“, weil Touristen auf „zivilisiertere Gegenden“ ausweichen. Die Spekulationen in den Medien haben bei diesen Lesern eine eigene Wirklichkeit erzeugt.
Eine Tourismuskrise im Osten scheint es nach wie vor nicht zu geben. Das teilen die Tourismusbehörden der fünf Bundesländer der Berliner Zeitung auch Anfang Juli mit. Zwar seien die Buchungen in den ersten Monaten des Jahres eher „verhalten“ gewesen, so wie in ganz Deutschland, seitdem aber bessere sich die Lage. Zahlen des Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) zeigen, dass das deutsche Reisejahr in der Tat in der ganzen Republik eher schwach begonnen hat. In Hamburg waren die Hotels und Pensionen von Januar bis März am besten, in Rheinland-Pfalz am schlechtesten ausgebucht. Politische Gründe hatte vermutlich beides nicht.
Buchungslage im Osten: Das sagen die fünf Bundesländer
In Sachsen-Anhalt seien nach wie vor keine Stornierungen aufgrund der AfD-Wahlergebnisse bekannt, sagt Sabine Kraus von der Investitions- und Marketinggesellschaft des Landes. Die Buchungslage in allen acht Reiseregionen sei gut, in Magdeburg und Dessau-Roßlau sei schon das Frühjahr sehr gut gelaufen. Eine verlässliche Prognose für den Sommer gebe es noch nicht – weil viele Menschen ihre Urlaube inzwischen sehr kurzfristig buchen. Das berichten auch die Verantwortlichen aus Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Alle sagen: Auch das sei ein deutschlandweiter Trend.Verfolgen die Hoteliers in Sachsen-Anhalt die Diskussion über die Frage, ob man im Osten noch Urlaub machen kann? Sabine Kraus schreibt, sie habe diese Frage landesweit weitergeleitet. Und unter anderem die Sorge zurückgemeldet bekommen, dass die anhaltende Debatte abschreckend wirken könne.In Sachsen sei man optimistisch, was die Buchungszahlen für den Sommer angehe, teilt Ines Nebelung vom Tourismus Marketing des Landes mit. Vor allem Urlaubsangebote für Familien mit Kindern seien gut gebucht. „Stornierungen aufgrund der AfD-Wahlergebnisse sind uns nicht bekannt.“ Im Januar 2025 sei Sachsen von der Buchungsplattform Booking.com als gastfreundlichstes Bundesland ausgezeichnet worden.Weder die Gästezahlen noch der Umsatz seien in seinem Bundesland nach den letzten Wahlen eingebrochen, sagt Christoph Grösel, Chef der Thüringer Tourismus GmbH. Thüringen habe 2024 eine „historische Bestmarke“ erreicht: zehn Millionen Übernachtungen von Urlaubern. Eine Umfrage unter den Hotels und Pensionen habe ergeben, dass drei von vier Betreibern mit der Buchungslage für die Sommerferien zufrieden seien. Im Thüringer Wald und anderen „ländlichen Naturregionen“ sei vor allem an den Wochenenden schon vieles gut gebucht, in Weimar oder Erfurt seien die Vorbuchungen von August bis Oktober gut.Grösel sagt deutlicher als die anderen Tourismuswerber aus dem Osten, dass ihn die Berichte in den Medien besorgen. „In letzter Zeit werden selbst einzelne Stornierungen medial so enorm multipliziert und diskutiert, dass der Eindruck von politisch motivierter Zurückhaltung bei Reisen nach Thüringen entsteht“, sagt er. Die anhaltende Berichterstattung über den „vermeintlichen fremdenfeindlichen“ Osten beschädige das Image von Thüringen als „freundliches Gastgeberland“ stark. Vor allem aber gehe es an der Realität vor Ort vorbei. „Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung!“, bittet Christoph Grösel.Als einziges Bundesland im Osten meldet Mecklenburg-Vorpommern schon jetzt Buchungszahlen für den Sommer. Im Juli erwarte man aufgrund der Vorbuchungen eine Auslastung von 81 Prozent, im August sogar von 82 Prozent, teilt der Tourismusverband für das gesamte Bundesland mit. Das sei für den Juli genauso gut wie 2024, für den August sogar ein wenig besser.
Und in Brandenburg, dem Land, aus dem sich die besorgte Pensionswirtin meldete? Dort scheint das Urlaubsjahr seit dem Frühling sogar besonders gut zu laufen. Schon im April habe die Zahl der Übernachtungen zehn Prozent über der des Vorjahres gelegen, sagt Patrick Kastner von der Tourismus Marketing Brandenburg GmbH. Die Sommer-Wochenenden seien schon sehr gut gebucht. In den Social-Media-Kanälen des Landes wachse die Zahl der Follower, nur vereinzelt gebe es polemische Kommentare.
Bürgermeister von Wittenberge: „Eher zu wenig Unterkünfte“In Wittenberge möchte sich die Pensionswirtin selbst zu der Sache nicht mehr äußern. Der Bürgermeister Oliver Hermann sagt, er könne nicht bestätigen, dass in seiner Stadt „überall tote Hose ist“. Es gebe kleine Probleme, die wolle er nicht verschweigen. Mit der AfD hätten sie nichts zu tun. Aber der Elbe-Radweg, der durch die Stadt führe, sei in einer Rangliste nicht mehr der beste, sondern nur noch der zweitbeste Radweg in Deutschland. „Beim Radtourismus müssen wir tatsächlich gucken, wie die Saison läuft“, sagt Hermann. Außerdem sperre die Deutsche Bahn ab August die Strecke zwischen Berlin und Hamburg, an der Wittenberge liege, die Stadt werde schwerer zu erreichen sein.
Ansonsten aber höre er eher, „dass wir zu wenig Unterkünfte haben“. Und das, obwohl die Stadt sogar 70 Betten dazubekommen habe im vergangenen Jahr. Es laufe gut in Wittenberge, es gebe auch Geschäftstourismus, sagt der Bürgermeister, der wie viele im Osten keiner Partei angehört. Die Artikel über die angebliche Tourismuskrise der Stadt hätten vor Ort „eher für Empörung gesorgt“.
Zum Beispiel bei Lutz Lange. Er ist Besitzer von sieben Hotels, in Bayern hat er eines, in Thüringen zwei und im brandenburgischen Wittenberge vier, darunter das „Elbe Resort Alte Ölmühle“.

Schlechte Buchungszahlen? Weniger Gäste? „Nein“, sagt Lange, „zu uns kommen sogar mehr als in den letzten Jahren, Touristen aus ganz Deutschland und Europa.“
Dem Tagesspiegel wirft Lutz Lange vor, aus einem Leserbrief eine Kampagne gemacht zu haben. Sein Sohn, Jan Lange, ist Brandenburger Vizepräsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands. Er hat sich die Pension, deren Besitzerin an den Tagesspiegel geschrieben hat, kurz entschlossen selbst angesehen und festgestellt, nicht Nazis seien die Ursache für die schlechten Buchungszahlen, sondern wohl eher die Bedingungen: Zimmer, die über kein eigenes Bad verfügen, Werbung über eine eigene Website und nicht über Internetplattformen wie Booking.com, und zum Frühstück nehmen alle Gäste an einem großen Tisch Platz.
Ostdeutscher Hotelier: Medienberichte „spalten unsere Gesellschaft weiter“Lutz Lange sagt: „Mein Vorwurf ist, dass der Tagesspiegel hier nur abschreibt. Ich hätte erwartet, dass jemand mal den Hörer in die Hand nimmt und eine ordentliche Recherche macht. Das ist nicht in Ordnung, das spaltet unsere Gesellschaft weiter. Von renommierten Zeitungen erwarte ich einfach etwas anderes.“
Sein Sohn hat in anderen Wittenberger Hotels und Restaurants nachgefragt. Alle sagten: Die Buchungslage sei besser als in den Jahren zuvor. Die Besitzer eines persischen Restaurants sagten, sie hätten noch nie mit Anfeindungen von rechts zu tun gehabt.
Der Tagesspiegel-Bericht über die vermeintlichen Nazis in Wittenberge erschien kurz vor dem Kleinstadtkongress, erzählt Lutz Lange, die Stadt sei stolz gewesen, den Zuschlag in einem bundesweiten Wettbewerb bekommen zu haben. 300 Besucher aus dem ganzen Land wurden erwartet, sogar aus Österreich. Wittenberge sollte als positives Beispiel dastehen, der Beweis, wie gut sich eine Stadt im Osten entwickelt hat. „Wir waren nach der Wende eine abgehängte Region, das kann man wirklich sagen“, sagt Lange. Bürgermeister Hermann hat auch eine Kleinstadt-Akademie ins Leben gerufen, die in das alte Bahnhofsgebäude ziehen soll.
Lutz Lange erzählt, wie er in den Neunzigern „als Zwei-Mann-Betrieb angefangen hat, mit nichts“. Jetzt habe er 610 versicherungspflichtige Mitarbeiter, darunter 25 Lehrlinge. Bei ihm arbeiteten auch Syrer, Afghanen, Georgier. „Wir sind ein Familienbetrieb, meine drei Jungs machen mit und meine Frau. Wir sind auf dem richtigen Weg, unsere Region entwickelt sich gut.“
Jan Lange hat den Tagesspiegel angerufen, hat der Redaktion gesagt, wie es wirklich ist in Wittenberge. „Wir müssen uns wehren“, sagt er, „sonst machen die mit uns, was sie wollen.“ Die Zeitung veröffentlichte noch einen Bericht, ließ endlich auch andere Gastgeber aus Wittenberge zu Wort kommen. Eine Krise im Tourismus, sagten alle, gebe es in ihrer Stadt nicht.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! [email protected]
Berliner-zeitung